Geschichten aus dem Auenland
Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, es sei denn, man ist ein Hobbit und erwartet Gäste. Ich muss es wissen, denn mein Name ist Balbo Straffgürtel und ich gehöre jenem kleinen Volk an, dass bekanntermaßen Dinge liebt, die wachsen. Bis vor wenigen Tagen lebte ich fröhlich im Tänzelnden Pony in Bree vor mich hin, doch nun befinde ich mich auf dem Weg nach Wasserau, um in der Höhle meiner soeben „über denBrandywein gesprungen“ Tante ein neues Leben als Gärtner und Angler zu beginnen.
Okay, nicht im realen Leben vielleicht, dafür aber in dem von Weta Workshop frisch auf den Markt geworfenen Cozy-Game Tales of The Shire: Ein „Der Herr der Ringe“-Spiel. Der Name Weta Workshop dürfte Fans der inzwischen sechsteiligen Filmreihe runtergehen, wie das berühmte Bier im Tänzelnden Pony und ein wohliges Gefühl in der Magengegend verbreiten, wie es sonst nur ein zweites Frühstück mit herrlich warmen Tüften vermag. Immerhin zeichnen die Neuseeländer maßgeblich für den Look der Herr der Ringe– sowie der Hobbit-Trilogie verantwortlich und müssten damit genau wissen, wie ein im Auenland angesiedeltes Computerspiel aussehen sollte.
Und genau tun sie das allen Unkenrufen zum Trotz. Wasserau und die Umgebung des angehenden Dorfes, in dem wir fortan leben, sind in der Tat mit Herzblut und Liebe zum Detail gestaltet – ein guter Anfang also, um ein neues Dasein abseits von Stress, Kampf und Loot zu führen. Damit sind wir auch schon beim Kern angelangt, denn Tales of the Shire ist ein entspanntes Cozy-Game, das es hervorragend versteht, Tempo aus dem Gameplay zu nehmen und bei geneigten Gamern ein behagliches Gefühl beim Gärtnern, Angeln, Sammeln und vor allem Kochen zu erzeugen.
Die süße, aber im Grunde belanglose Geschichte beginnt auf dem Weg nach Wasserau. Müde und mit brennenden Füßen liegen wir auf einem Baumstumpf und schlummern vor uns hin, als ein Wagen auf der staubigen Straße entlangzieht und direkt vor unserem Lagerplatz Halt macht. Ein Blick genügt dem gestandenen HdR-Veteranen, um zu wissen, wen wir da vor uns habe. Gandalf durchstreift das Auenland. Nach einem kurzen, aber hübschen Gespräch, bringt uns der graue Zauberer fröhlich ans Ziel und wünscht uns alles Gute. Mit so einer Videosequenz darf unser Leben als Hobbit gerne beginnen.


Lore hier, Lore da
In vielen von mir konsultierten Tests ist übrigens zu lesen, das Setting sei austauschbar, da die Lore abseits einiger weniger Bemerkungen kaum Beachtung fände. Dieser Einschätzung kann ich nach nunmehr knapp 20 Stunden Spielzeit allerdings nicht zustimmen. Zwar erzählen die Entwickler von Tales of the Shire keine tiefgreifende, epische Geschichte, dafür gelingt es ihnen aber auf ebenso stimmige wie putzige Art, die Atmosphäre des Auenlandes einzufangen. Überall blüht und grünt es, Nutztiere liegen mitten auf dem Weg oder grasen gemütlich auf den Wiesen. Eine uns nur allzu bekannt vorkommende alte Steinbrücke lädt zum Verweilen ein, verwitterte Ruinen stehen am Wegesrand und verlassene Hobbit-Höhlen dienen als Tunnel, um den idyllischen Wald zu erreichen. Die Figuren, denen wir begegnen, sind zudem herrlich schrullig und tun, was ein Hobbit eben so tut.
Ein großes Manko – und für manchen vielleicht ein Atmosphärekiller – liegt allerdings in der Tatsache, dass man abseits der Questgeber mit den meisten der knuffig animierten Hobbits nicht interagieren kann. Ein paar Dialogoptionen hier und da, die Möglichkeit, Beziehungen aufzubauen, ein abends auf dem Tisch der gut besuchten Schänke nutzbares Tanzemote, all das täte dem Spiel sichtlich gut. Das tut den vielen lustigen Eastereggs, die Weta Workshop ins Game ansonsten eingebaut hat, aber keinen großen Abbruch. Die Neuseeländer lassen vielmehr kaum eine Gelegenheit aus, die Spielerschaft an das Setting zu erinnern.
Egal, ob wir ein zweites Frühstück oder den Elf-Uhr-Imbiss organisieren, die Geschichte eines alten Königs hören, der einst in Mittelerde herrschte und den Hobbits wohlgesonnen war oder wir Tüfte anbauen anstatt Kartoffeln: es gibt viele kleine Anmerkungen und Momente, die das Fanzherz höherschlagen lassen. Jedoch muss man bereit sein, mehr als nur vier oder fünf Stunden zu investieren, um all das zu erleben, denn Tales of the Shire ist kein Spiel für die Ungeduldigen.
Langsam, aber unterhaltsam
Zwar ziehen wir sehr schnell in die uns überlassene, heruntergekommene Höhle ein, bauen die ersten Pflanzen an, bekommen eine Übungsangel und dekorieren unser neues Heim mit einigen Möbeln und Memorabilien, die wir durch Quests oder Einladungen zum Essen ergattern. Doch um wirklich so etwas wie Progress zu spüren, muss man bereit sein, sich auf das gemächliche Tempo des Spiels einzulassen. Anders als in vielen anderen modernen Cozy-Games dauert es je nach Spielweise zwischen sechs und zehn Stunden, bis man einen ersten Fortschritt spürt. Um das zu erreichen, müssen wir uns zunächst mit der Story auseinandersetzten. Jene dreht sich im Kern darum, aus dem kleinen Örtchen Wasserau ein echtes Dorf zu machen. Dafür müssen wir so manche Aufgabe erledigen, unter anderem auch einen Angler, einen Koch-, einen Sammler- und einen Gärtnerverein gründen. Erst wenn dies geschafft es, geht es auch in Sachen Inventarvergrößerung und dem Freischalten neuer, interessanter Features voran.


Gameplay
Das Core-Gameplay bildet dabei eindeutig die Cooking-Mechanik. Hobbits essen nun einmal gerne, entsprechend befassen wir uns ausgiebig mit der Textur und den Geschmack von zahlreichen Gerichten. Um beispielsweise einem unserer Nachbarn ein süßes, zartes und gleichzeitig stückiges Gericht zu kredenzen, sind sowohl ein wenig Geschick, die richtigen Zutaten als auch die entsprechenden freigeschalteten Kochstationen erforderlich. Hinzu gesellt sich Übung und Experimentierfreude, denn ein und dasselbe Rezept kann bei Verwendung anderer Gewürze oder höherwertigerer Zutaten durchaus mehrere Eigenschaften aufweisen.
Um die Kocherei auch optisch schön zu gestalten, arbeitet Weta mit hübschen Animationen und die Möglichkeit, Futtergelage an verschiedenen Orten in Wasserau auszurichten. Können wir zu Beginn lediglich zwei NPCs an unseren Küchentisch laden, kommen später das Dach einer freundlichen Waldbewohnerin und die größte Schenke im zukünftigen Dorf dazu. Am dortigenTisch nehmen bis zu vier Gäste gleichzeitig Platz, die uns für unsere Kochkünste reichlich belohnen. Das motiviert ungemein und macht Spaß.
Angeln und Gärtnern
Die an das Cozy-MMO Palia erinnernde Angelmechanik ist ein weiteres zentrales Element, dessen Möglichkeiten sich mit fortschreitender Spieldauer ebenfalls stark erweitern. Werfen wir unsere Übungsrute zu Beginn an nur drei Ufern aus, sind es nach einigen Stunden bereits fünf. Nehmen wir außerdem reichlich Quests beim Anglerverein an, leveln wir unsere Angel und begeben uns anschließend auf die Jagd nach immer besseren und selteneren Wasserbewohnern.
Als drittes großes Standbein gehört das Gärtnern zu den Beschäftigungsmöglichkeiten unseres virtuellen Hobbit-Lebens. Auch diese Tätigkeit fühlt sich während der ersten Schritte im Spiel fraglos eingeschränkt und rudimentär an. Wer jedoch wiederum fleißig levelt, schaltet nach und nach neue Gartengründstücke und Nutztiere frei, dessen Erträge entweder Geld einbringen oder in der Speisekammer landen.
Nehmen wir das Genre-typische Sammeln von Pilzen Nüssen, Kräutern und Früchten hinzu, kommen wir also nicht nur auf einen stattlichen Vorrat für unsere Kochbemühungen, sondern auch auf etliche Stunden Spielzeit. Fairerweise muss ich anmerken, dass die jeweiligen Spielmechaniken abgesehen vom Kochen gegenüber Cozy-Highlights wie die Story of Seasons-Reihe, Stardew Valley oder Luma City stark zurückgefahren und auf das Nötigste beschränkt sind. Das kann man als Manko ansehen, muss es aber nicht. Gerade Stardew Valley und Dreamlight Valley befinden sich seit Jahren in der Weiterentwicklung und haben massenhaft Updates gesehen. Ein Blick auf die Karte von Tales of the Shire verrät indes, dass Weta anscheint für das Spiel einen ähnlichen Weg vorsieht. Mindestens drei Gebiete könnten in Form von Updates oder kostenpflichtigen DLCs darauf zu warten, irgendwann die idyllische Gegend rund um Wasserau weitläufiger werden zu lassen.


Nichts wird so heiß…
Blicke ich auf die letzten 20 Stunden Spielzeit zurück, komme ich nicht umhin zumindest einigen Reviewern zu unterstellen, zu ungeduldig gewesen zu sein. Viele kleine, nette Ideen offenbaren sich in Tales of the Shire erst nach und nach. Einige wollten die Entwickler offensichtlich erst gar nicht etablieren, um das super entspannte Gefühl beim Daddeln nicht zu torpedieren, andere wie das Kochen sind dafür umso ausgefeilter. Wer tiefgreifende Mechaniken inklusive Mikromanagement ohne Ende und Wirtschaftsaspekte erwartet, ist mit der Hobbit-Lebensimulation ohnehin nicht gut bedient. Ganz offensichtlich lag die Absicht nie darin, den Großen Hardcore-Farmern Konkurrenz machen. Sägemühlen? Ziegelöfen? Samenkollektoren? Einmachköcher? Drehmaschinen? All das braucht ein wahrer Hobbit nicht, um glücklich zu sein. Einem Straffgürtel, Beutlin, Brandybock oder Boffin geht es um Gemütlichkeit. Davon gibt es in Tales of the Shire reichlich, wenn ich mir auch mehr Interaktion mit den NPCs wünschen würde. Ich erfreue mich lieber an den ausführlichen Dekoartionsmöglichkeiten, probiere neue Kleidung an, gehe meinem Tagesgeschäft nach und koche, was das Zeug hält. Damit fühle ich mich gut und cozy unterhalten.
Reinhards Wertung: 7 von 10 Planet-Trek-Humpen

