Andere Welten

Bücherecke: Natasha Pulley: Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

© Klett/Cotta

In unserer Bücherecke spricht Birgit Schwenger heute über “Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit”.

© Klett/Cotta

Faszinierendes Spiel mit der Zeit

Der 43-jährige Engländer Joe Tournier steigt 1898 in London aus dem Zug und kann sich an nichts mehr erinnern. Gerade, dass ihm noch sein eigener Name einfällt, aber alles andere ist erschreckend neu und verwirrend. Der Schaffner ruft aus, dass sie am Bahnhof Gare du Roi in Londres angekommen sind: Alle Schilder sind auf Französisch, die ganze Stadt versinkt in Rauch und Qualm wegen der vielen Stahlwerke, die Stahl für die ganze Französische Republik produzieren.

Überall stehen andere Gebäude oder gar keine mehr, die St.-Pauls-Kathedrale ist nur noch eine Ruine. Ein offenbar fremder Mann, der mit ihm aus dem Zug gestiegen ist, bringt Joe in ein Krankenhaus, wo ihm erklärt wird, dass er einen epileptischen Anfall hatte und deshalb seine Erinnerung verloren hat, was gerade sehr verbreitet sei. Er werde auch immer wieder Déjà-vu-Erlebnisse haben – von Dingen, die gar nicht wirklich passiert seien. Als ihn schließlich seine Familie abholt, kommt ihm diese ebenfalls fremd vor: Joe erfährt, dass er als Leibeigener eines Monsieur Saint-Marie aufgewachsen ist und mit Alice, der Frau seines toten Bruders, der ihm Kampf gegen die verbleibenden englischen Rebellen gefallen ist, verheiratet ist.

Nachdem die Engländer 1805 die Schlacht bei Trafalgar gegen die Franzosen verloren haben und 1807 der nach Edinburgh geflohene englische König zusammen mit den noch verbleibenden englischen Truppen abgeschlachtet worden ist, steht Großbritannien als Kolonie unter französischer Herrschaft, mit Napoleon dem IV. als Kaiser. Die meisten Engländer leben in Leibeigenschaft, fern von jeglicher Bildung und Kultur, die englische Sprache ist verboten und nur noch Teile Schottlands halten weiterhin im Widerstand gegen die Franzosen Stand, angeführt von den Saints, einer terroristischen Gruppe, die in ganz England Anschläge gegen die Franzosen verüben.

Schatten der Vergangenheit

Obwohl Joe immer wieder von seltsamen Gedächtnisbildern geplagt wird – so erinnert er sich an eine dunkelhaarige Frau in Grün namens Madeleine, die vielleicht seine Frau oder auch seine Schwester gewesen sein könnte –, ergibt er sich schließlich in sein Schicksal, bis er eines Tages eine Postkarte erhält, die vor 93 Jahren an ihn adressiert, aber erst jetzt abgeschickt worden ist. Sie zeigt das Bild eines Leuchtturms auf den schottischen Hebriden, der allerdings gerade eben erst gebaut worden ist, und enthält die Zeilen „Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M“.

Angetrieben von dem brennenden Wunsch die Wahrheit über sein früheres Leben zu erfahren, tritt Joe in den Dienst von Monsieur de Méritens, der Maschinen und Generatoren für die Leuchttürme der Republik herstellt, und ergattert schließlich den Auftrag, den Winter über auf dem besagten Leuchtturm von Eilean Mór nach dem Rechten zu sehen. Wer schreibt ihm aus der Vergangenheit? Warum glaubt er den Leuchtturm zu kennen? Und wer ist Madeleine?

Was wäre, wenn…

Nachdem der Klett-Cotta-Verlag 2021 Natasha Pulley gelungenen Debüt-Roman Der Uhrmacher in der Filigree Street in der Hobbit-Presse veröffentlicht hat, legt der Verlag nun mit Pulleys aktuellen, im Original 2021 unter dem Titel The Kingdoms erschienen Roman nach. Auch in Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit, geht es – wie der Titel schon verrät – erneut um ein wahrhaft fantastisches Verwirrspiel mit der Zeit, und das gleich auf mehreren Ebenen.

Die Geschichte setzt ein im Jahr 1898, als Joe in London ohne Erinnerung aus dem Zug steigt, und springt dann in die Vergangenheit des Jahres 1807, zwei Jahre nach der verlorenen Schlacht von Trafalgar und dem Fall von London, als die versprengten englischen Truppen verzweifelt gegen die schiere Übermacht der Franzosen ankämpfen, und Joe sich inmitten einer völlig veränderten Zeitlinie wiederfindet. Pulleys Roman ist keine klassische Zeitreisegeschichte, sondern ein exquisites Puzzlespiel mit einer alternativen Vergangenheit. Was wäre, wenn die Franzosen die Schlacht bei Trafalgar gewonnen hätten? Wenn sie mit einem immensen Vorsprung an technischem Wissen und Gerätschaften in den Krieg gezogen wären? Jede Entscheidung, jede Handlung beeinflusst die Zukunft und führt zu gravierenden Änderungen der Geschichte, wie wir sie kennen.

Der Einstieg in die komplexe Alternative History ist nicht ganz ohne – zu Beginn des Romans ergeht es den Leser*innen vermutlich nicht viel anders als Joe: Ständig scheint eine Erklärung für die seltsamen Ereignisse zum Greifen nah, doch im Hintergrund zieht Pulley so geschickt die Fäden und verknüpft immer wieder andere Handlungsstränge miteinander, so dass der gerade vermeintlich entschlüsselte Erzählstrang wieder komplett anders verläuft. Puzzleteil für Puzzleteil blättert Pulley die sich überkreuzenden Wege der einzelnen Hauptfiguren im Verlauf der verschiedenen Zeitebenen und sich verändernden Ereignisse auf und gibt nach und nach mehr Details preis, anhand derer sich die Leser*innen schließlich die historischen Zusammenhänge erschließen können. Chapeau, wem das schon vor dem sechsten und letzten Teil des Buches, Zuhause, gelingt.

Epische Seeschlachten und die Brutalität des Krieges

Erneut hat die Britin, die in Oxford Englische Literatur studiert und dann bei der Cambridge University Press die Bereiche Astronomie und Mathematik betreut hat, einen sehr wissenschaftlich geprägten Roman vorgelegt, der im Gegensatz zu ihrem Erstlingswerk nicht mit handfester Action hinter den Berg hält: Epische Seeschlachten, brutale Kriegseinsätze und das gnadenlose Vorgehen beider verfeindeter Länder sind packend geschildert, aber zum Teil nichts für zartbesaitete Seelen.

Pulley zeigt den Krieg schonungslos mit aller Brutalität, die vor niemanden Halt macht. Die britische Marine hält sich nur noch mit dem Einsatz von Kindern und Frauen, die zentrale Rollen in der Mannschaft einnehmen, überhaupt über Wasser. Ein Kapitän urteilt sogar, dass Frauen viel besser für einige Aufgaben an Bord geeignet seien als Männer und warum man nicht längst auf die Idee gekommen sei, sie einzusetzen.

Wie schon im Uhrmacher spielt Pulley auch hier wieder mit klassischen Rollenverständnissen und ihren Umkehrungen und bringt insgeheim noch eine zarte, gefühlvolle Liebesgeschichte unter. Die Sprache des eindrucksvoll erzählten Romans, der durch Pulleys ungeheurem Erfindungsreichtum glänzt, ist wieder eine reine Wohltat und stilistisch auf hohem Niveau. Die Aufmachung des Buches ist wie immer bei Klett-Cotta äußerst gelungen, ebenso wie die Übersetzung ins Deutsche von Jochen Schwarzer.

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