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Bücherecke: Dayton Ward: Star Trek – Coda 1: Zeit in Scherben

© Cross Cult

Bernd Perplies befasst sich heute mit „Zeit in Scherben“, dem ersten Teil der „Coda“-Reihe aus der Feder von Dayton Ward.

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Wer sich ein wenig im Marktsegment der sogenannten Tie-In-Romane auskennt, der weiß, dass alle Geschichten in den Romanen (und Comics, Videospielen, Hörspielen etc.) immer nur der Kerngeschichte in Film und Fernsehen dienen. Das gilt für Star Wars ebenso wie für Star Trek, Doctor Who, Aliens, Planet der Affen, was auch immer. Und diese Geschichten sind auch nur so lange kanonisch, bis ihnen ein neuer Film oder eine neue Serie widerspricht. Danach kann man sie inhaltlich getrost in die Tonne kloppen. Oder man schreibt eine Trilogie wie Coda. Was vor vier Jahren bei Star Trek geschehen ist …

Blick in eine goldene Vergangenheit …

Ich will an dieser Stelle ein wenig ausholen, allein, um die Tragweite dessen, was da passiert ist, verständlich zu machen. Im Dezember 2002 endete mit dem Kinofilm Star Trek: Nemesis die Ära Star Trek – The Next Generation im Bewegtbild – das schloss auch die Geschwisterserien Deep Space Nine und Voyager mit ein. In-Universe schrieb man das Jahr 2379, Will Riker hatte gerade sein eigenes Schiff, die U.S.S. Titan bekommen, Data war gestorben, die Enterprise-E schickte sich an, zu neuen Abenteuern aufzubrechen. Schon ein Jahr zuvor war die Voyager aus dem Delta-Quadranten heimgekehrt, vier Jahre zuvor hatte sich Benjamin Sisko zu den Propheten in den Himmlischen Tempel (im Wurmloch) gesellt und die Gemeinschaft von Deep Space Nine war zerbrochen. Die Zukunft schien ungewiss …

In diesem Moment übernahmen die Tie-In-Autoren, die zuvor bloß blankes Beiwerk geschrieben hatten, den Staffelstab. Befreit von den Problemen, die ein Schreiben parallel zu TV-Serienproduktionen und Kinofilmen mit sich bringt, nahmen Keith R. A. DeCandido, S. D. Perry, Peter David, David R. George III, David Mack, Andy Mangels und wie sie alle hießen das Star Trek-Erzähluniversum unter ihre Fittiche und ließen es komplett neu erblühen. Die Voyager kehrte mit neuer Mission in den Delta-Quadranten zurück, Captain Picard und seine Leute mussten sich dem schlimmsten Ansturm der Borg stellen, auf Deep Space Nine wurde die galaktische Soap-Opera auf ein neues Level gehoben. Etwa zwanzig Jahre lang – von Mai 2001 (ja, DS9 hatte seinen Roman-Serien-Relaunch schon vor Nemesis) bis Herbst 2021 – wurde das LitVerse mit viel Liebe ausgebaut und weiterentwickelt, und es erfüllt mich noch heute mit Stolz, dass ich an der Seite von Christian Humberg mit der Star Trek: Prometheus-Trilogie 2016 meinen kleinen Teil dazu beitragen durfte.

Der Hammerschlag

Und dann kam die TV-Serie Star Trek: Picard. Die Serie sollte tatsächlich an Star Trek: Nemesis anschließen, wenn auch 20 Jahre später angesiedelt, im Jahr 2399. Und das – jeder Fan erkannte das binnen einer Sekunde – war ein Riesenproblem für das LitVerse von Star Trek. Denn wenn eines sicher ist in der Branche, dann dass sich Drehbuchautoren von Bewegtbildprojekten einen Dreck um Tie-In-Geschichten scheren, selbst wenn sie eine halbe Ewigkeit lang mit viel Liebe und Mühe entwickelt worden sind. Star Trek: Picard sollte also de facto alles hinfällig machen, was seit 2001 geschrieben worden war.

Bei Star Wars war genau so etwas auch passiert, als Disney das Franchise von Lucasfilm übernahm und die Sequel-Trilogie ankündigte. Dort machte man es sich 2014 einfach: Alle Inhalte, die jemals in Begleitmedien neben den Filmen und TV-Serien entwickelt worden waren, wurden für null und nichtig erklärt, zu „Legenden“ deklariert. Tabula Rasa. Der Aufschrei unter den Fans war entsprechend laut. (Und ganz ehrlich: Disneys neue Version der Ereignisse nach Die Rückkehr der Jedi-Ritter war zu nicht unerheblichen Teilen deutlich mieser als die der Romane und Comics zuvor – aber das ist eine andere Geschichte.) Um diesem unschönen Schicksal bei Star Trek zu entgehen, setzen sich die Autoren Dayton Ward, James Swallow und David Mack zusammen und ersonnen gemeinsam mit den Verantwortlichen bei PocketBooks und CBS die Coda-Trilogie, einen offiziellen Abschluss des bisherigen LitVerse, der dafür sorgen sollte, dass alles irgendwie zur neuen Zukunft von Picard passte.

Am Anfang vom Ende aller Dinge

Dabei begann die Gerüchteküche schnell zu brodeln. Coda sollte, so hieß es, das komplette LitVerse zerstören. Die Vergangenheit auslöschen, damit sie konsistent mit Star Trek: Picard sein würde. Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, welche Vorgehensweise mir sympathischer ist: die von Disney, die auf einer Meta-Ebene schlicht alles auslöscht und zur Legende macht, oder die dieser drei Autoren, die zum Abschied einfach alles persönlich kaputtschlagen, nur damit die Romanabenteuer zuvor „kanonisch“ existiert haben können. Weg sind am Ende beide Expanded Universes, nur kann man im Fall von Disney immerhin sagen: Es ist ja noch alles da – und wenn es mir besser gefällt als das neue Zeug, kann ich die Legenden zu meiner Wirklichkeit deklarieren. Wer dagegen im LitVerse offiziell stirbt … nun, der ist dann auch tot.

Lange bin ich um die Trilogie herumgeschlichen. Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich wissen will, wie schlimm es mit meinem geliebten LitVerse endet. Aber Star Trek-Fan zu sein, heißt ja auch, sich immer wieder mutig dem Unbekannten zu stellen, also habe ich mich nun auch an diese seitenstarke Herausforderung gewagt. Wie die Trilogie letztlich genau ausgeht, weiß ich nicht. Ich habe mich erfolgreich all die Zeit nicht spoilern lassen. Wenn man Zeit in Scherben allerdings liest, dann wird die Zukunft zumindest düster gezeichnet.

Angriff der Zeitlinienfresser

Alles beginnt mit Wesley Crusher, der ja noch in der TV-Serie Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert zum Reisenden wurde, sich also kreuz und quer durch Raum, Zeit und Realitäten bewegen kann. Dieser wird von unheimlichen Wesen gejagt, die es irgendwie auf das Universum als Ganzes abgesehen haben. (Erinnerungen an die zweite Staffel Star Trek Prodigy werden wach, aber Coda war natürlich zuerst da.) Anfangs liest sich das alles noch etwas konfus und verwirrend. Es geht um Zeit, ihre Zersplitterung und wie Realitäten in sich zusammenbrechen. Der Gegner, der sich vor allem in Form von Weltraum-Riesenschlangen und Kapuzenmännern zeigt (da weht ein Hauch von Cthulhu-Mythos durch die Seiten), scheint jedenfalls kaum besiegbar zu sein und löscht im Akkord Nebenfiguren des LitVerse aus, zunächst unbedeutende, dann zunehmend auch solche, die uns schon seit fast zwanzig Jahren begleiten.

Dabei wirkt ihr Tod fast zu beiläufig erzählt, um sich beim Leser voll zu entfalten. Es verlieren einfach zu viele zu schnell ihr Leben, als dass man Zeit hätte, um sie zu trauern. Vielleicht muss man auch alle Romane der letzten Jahre kennen, um so richtig Mitgefühl empfinden zu können. Ich war in manchen Fällen fast dankbar für ihr Verschwinden, weil die Personalriege des Romans doch ziemlich groß ist und manche der Figuren für mich nur Namen ohne großen Hintergrund waren. (Zugegeben kenne ich zwar einige Star Trek-Romane, nicht zuletzt als ihr Übersetzer, aber bei Weitem nicht alles, was herausgekommen ist.)

Im Laufe des Romans klärt sich dann zunehmend, dass man es offenbar mit einer Spezies zu tun hat, die sich von Lebensenergie ernährt – und die nun anscheinend nach Belieben Realitäten erzeugt und auslöscht, um sich dann von den unendlich vielen Toten zu ernähren. Das ist gelinde gesagt ziemlich abenteuerlich, wenn man bedenkt, wie groß so ein ganzes Universum ist. Und so entwickelt sich auch das Problem, dem Captain Picard, Wesley und die Crew der Enterprise gegenüberstehen, in Dimensionen, die den Verstand sprengen wollen. Nicht nur eine Welt, eine Galaxis, ein Universum stehen auf dem Spiel, sondern alle denkbaren Realitäten, die existieren. Kurioserweise konnten ihre Gegner – die einer TV-Serienepisode entspringen und damals noch unendlich viel schwächer wirkten – offenbar völlig problemlos zu solcher Macht anwachsen, ohne dass es irgendjemand in der Vergangenheit bemerkt hätte. Hat zum Beispiel das Q-Kontinuum, das doch auch aus allmächtigen Wesen besteht, nichts dazu zu sagen? Nun ja. Wie sich das Ganze entwickelt, weiß man ja noch nicht. Dayton Ward hat vor allem die Exposition und ein erstes Herantasten an den Feind zu Papier gebracht.

An dieser Stelle ein kleiner Spoiler, um einen Gedanken zu verfolgen (wer das nicht will, bitte zum Fazit springen):

Interessanterweise schwebt über dem ganzen Roman auch eine gewisse Meta-Ebene mit. Die gesichtslosen Feinde, die schier nach Belieben Romanfiguren töten und Realitäten zusammenbrechen lassen können, erinnern ein wenig an (Drehbuch)Autoren, die eben diese Macht über das LitVerse haben. In Star Trek: Picard haben sie mit einem Fingerschnippen Charaktere wie Dina Elfiki, Rennan Konya oder Aneta Šmrhová verschwinden lassen. Interessant – und vielleicht ein Silberstreif der Hoffnung für Fans – ist auch, dass die LitVerse-Realität erstmals als „Ast“ am Baum aller Existenz bezeichnet wird. Das LitVerse ist nicht Teil des Stamms, nicht die „Urrealität“. (Das ist die Bewegtbild-Realität, von der das LitVerse nach Star Trek: Nemesis sozusagen als Abzweigung entstanden ist.) Da sich der Feind von den fragilsten Verästelungs-Realitäten langsam Richtung Stamm vorfrisst, stellt sich Picard und den anderen die Frage: Können wir diese Realität retten? Oder müssen wir sie opfern, um den Stamm zu bewahren?

Genau um diese Frage dürfte es in Band 2 und Band 3 der Coda-Trilogie gehen. Und gerade weil die Frage hier noch eine offene ist, besteht für mich, der ich mich bislang nicht habe spoilern lassen, noch die geringe Hoffnung, dass zumindest ein Teil des LitVerses am Ende weiterbestehen darf. Wenn auch ein sehr trauriger, denn die Verluste waren schon jetzt hoch.

Das erste Fazit

Zeit in Scherben ist der Anfang vom Ende von 20 Jahren Star Trek-LitVerse. So zumindest sieht es aus. Eine Bedrohung, die von ihrer Größenordnung her beinahe den Verstand sprengt – sowohl der Figuren als auch aller Leser – stellt Captain Picard und seine Crew vor eine schier unlösbare Aufgabe. Dayton Ward bietet hier vor allem Exposition und erste Schlagabtausche. Dazwischen gibt es viel TechBabble über Zeiten, Phasen und Dimensionen. Leicht zu verstehen ist der Roman nicht. Und die ein oder andere bittere Pille lässt er langjährige Fans auch schlucken. Dennoch: Man muss Coda eigentlich gelesen haben, wenn man sich in den zwei Jahrzehnten zwischen 2001 und 2021 irgendwie ins LitVerse verliebt hat. Kurz gesagt: Für Gelegenheits-Leser ist der Roman nichts; zu komplex ist er mit allem verwoben, was vor ihm kam. Für LitVerse-Fans dagegen ist das Buch – thematisch bedingt – vielleicht nicht unbedingt eine Freude, aber doch fast ein Muss.

Nachtrag

Um Verwirrung vorzubeugen: Mit den jüngsten Star Trek-Romanen hat das alles übrigens nichts zu tun. Werke wie Wiedergänger oder Perspektiven stehen wieder ganz in der Prä-LitVerse-Tradition, indem sie Tie-In-Storys zwischen zwei Filmepisoden erzählen. Diese mögen zwar ein spannendes Abenteuer bieten, bleiben am Ende aber weitgehend folgenlos für die namhaften Beteiligten (damit die Geschichte von selbigen ohne Bruch in der TV-Serie weitererzählt werden kann).

Star Trek – Coda 1: Zeit in Scherben von Dayton Ward

Cross Cult 2022 / ISBN: 978-3-96658-941-3

430 S., Taschenbuch, deutsch

Preis: EUR 15,00

Informationen zum Redakteur

Perplies mittel

Bernd Perplies

Website: http://www.bernd-perplies.de
Facebook: https://www.facebook.com/bernd.perplies
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Perplies

Bernd Perplies verbringt schon sein ganzes Leben mit Zwergen und Sturmtrupplern, Vampiren und Vulkaniern. Prägende Jugendjahre voller Abenteuer an der Seite von Perry Rhodan, Jean-Luc Picard, Gandalf und Luke Skywalker sorgten für eine Anhäufung unnützen Wissens über neue Welten, neues Leben und neue Zivilisationen fernab der Realität. Um dieses Wissen sinnvoll weiterverwerten zu können, entschied er sich für eine Laufbahn als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist.

Seitdem hat er zahllose Artikel für die SpaceView, das Phantastika Magazin und Tor Online verfasst, rund 20 Star Trek-Romane (und ein bisschen Genre-Beifang links und rechts) übersetzt, etwa 1000 Seiten an Playmobil-Magazin-Comics ersonnen und annähernd 50 phantastische Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben, darunter die Magierdämmerung-Trilogie, offizielle Beiträge zu Shadowrun und BattleTech, die Drachengasse 13-Reihe und Star Trek Prometheus, den Geburtstagsdreiteiler des Cross-Cult-Verlags zum 50-jährigen Jubiläum von Captain Kirk & Co.

Bernd Perplies lebt mit seiner Familie (und einer einzelnen tapferen Grünpflanze) unweit von Stuttgart in einem Labyrinth aus Billy-Regalen voller Bücher, Filme und Brettspiele.

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