Am 14. und am 21.12.1992 kam in den USA ein außergewöhnlicher Zweiteiler der Star Trek-TV-Historie auf die Bildschirme. Chain of Command Part 1 & 2 oder auf Deutsch Geheime Mission auf Celtris III Teil 1 & 2 erzählt davon, wie Captain Picard bei einer Undercover-Operation von den Cardassianern gefangen genommen und dann vom brutalen Verhörspezialisten Gul Madred gefoltert wird, weil sich dieser nicht nur Militärgeheimnisse von ihm erhofft, sondern obendrein als zutiefst gestörter Mann einen hoch dekorierten Sternenflotten-Captain brechen will.
Die Doppelfolge bot Fans nicht nur das wirklich sehenswerte Aufeinanderprallen der zwei großen britischen Mimen Patrick Stewart und David Warner, sondern wurde später auch als Wendepunkt deklariert, der die Cardassianer zum Rückzug von Bajor bewegen sollte, das diese zuvor jahrzehntelang besetzt gehalten hatten.
Der Anfang der Aufbauarbeit im Bajor-Sektor durch die Föderation und die Sternenflotte sollte dann in der Serie Deep Space Nine erzählt werden, die am 3.1.1993, also nur zwei Wochen nach Chain of Command mit der Doppelfolge Emissary begann, dem Eintreffen von Commander Benjamin Sisko auf der alten Erzverarbeitungsstation der Cardassianer im Orbit von Bajor. Auch in Sternzeit-Angaben liegen diese zwei Ereignisse sehr nah beisammen. Chain of Command endete 46360,8, Emissary begann 46379,1.
Rein produktionstechnisch hat sich natürlich kein Zuschauer damals gewundert, dass Captain Picard und die Enterprise in der Pilotfolge den Staffelstab an Commander Sisko auf DS9 weitergab – das war schließlich auf gleiche Weise auch damals zu Beginn der Serie The Next Generation geschehen, als ein gealterter Pille McCoy sich publikumswirksam durch die Enterprise-D hatte führen lassen. Aber ein findiger Tie-In-Autor hätte sich wohl schon damals fragen können, wie es Picard vom Foltergefängnis auf Celtris III praktisch direkt zum Rückzug der Cardassianer auf Bajor verschlagen haben könnte …
Der perfekte Lücke
Es hat bis in die 2020er gedauert, bis Autor Dayton Ward diese perfekte erzählerische Lücke erkannte und sich anschickte, diese mit seinem Roman Pliable Truths auszufüllen. Im Mai 2024 kam das Werk in den USA auf den Markt. Nun ist der Roman – ein Deep Space Nine/The Next Generation-Cross-Over – auch auf Deutsch erschienen, unter dem Titel Perspektiven.
Die Geschichte beginnt mit einer gewaltigen Überraschung – nicht für die franchise-kundigen Leser, aber zumindest für alle an der Handlung beteiligten Figuren. In einem cardassianischen Arbeitslager auf einer geheimen Welt erhält der befehlshabende Gul Havrel eine Nachricht vom Detapa-Rat, der zivilen Regierung auf Cardassia, die in der Regel gegenüber dem militärischen Zentralkommando wenig zu sagen hat. Doch nach der Schlappe im Minos-Korva-System – eine Invasion der Cardassianer war Dank der Enterprise und ihrem in Picards Abwesenheit kommandierenden Offizier Captain Jellico desaströs gescheitert – scheint der Detapa-Rat Oberwasser zu haben. Und sein Befehl lautet: Rückzug aus dem bajoranischen Sektor. Rückzug von Bajor. Rückzug von Terok Nor. Alle Bajoraner werden freigelassen, alle Kulturgüter zurückgegeben. Eine Katastrophe! Für die Cardassianer. Aber der Anfang einer neuen Ära für die Bajoraner.
Die Übergangsregierung auf Bajor braucht Hilfe, um den Abzug zu ordnen und um unmittelbar Reparationsverhandlungen mit den Cardassianern anzustoßen. Hierzu wendet sie sich an die Föderation, obwohl die Stimmung gegenüber jener bei den Bajoranern eher schlecht ist. Immerhin hat die Föderation jahrzehntelang zugesehen, wie Cardassia Bajor unterdrückt hatte. Das sei ein internes Problem, so lautete stets die Ausrede. Da dürfe man sich nicht einmischen. Erste Direktive und so. Picard fand das schon immer beschämend, und daher wird er als der perfekte Mann erachtet, um die Brücke zwischen Bajor und der Föderation zu schlagen. So kommt die Enterprise nach Bajor …
Ein großes Panorama mit Schwächen im Detail
Dayton Ward hatte sich mit dem Roman sichtlich Großes vorgenommen. Den Abzug der Cardassianer von Bajor zu erzählen, ist wahrlich keine Kleinigkeit, vor allem, wenn man den unterschiedlichsten Aspekten Tribut zollen will. So wird die Handlung auch in mehrere Parallelsträngen aufgeteilt. Ein Strang erzählt von Picard und Troi, die als Vermittler bei den Verhandlungen zwischen Bajor und Cardassia dienen sollen, in die sich unter anderem Gul Dukat, der ehemalige Kommandant von Terok Nor einmischen will. Ein anderer berichtet von Miles O’Brien, dem die undankbare Aufgabe zuteilwird, die verwüstete Raumstation zur Basis für die Sternenflotte herzurichten, und das trotz Fallen und Saboteuren. Dabei lernt er nicht zuletzt den Barkeeper Quark und den Sicherheitsoffizier Odo kennen. Ein weiterer Strang erzählt von Beverly Crusher, Keiko O’Brien und einer gewissen Kira Nerys, die einer seltsamen Seuche nachspüren, die viele Bajoraner seit dem Abzugsbefehl befallen hat. Riker, Worf und Ro Laren erhalten derweil einen Hilferuf aus dem cardassianischen Raum, der einiges an Sprengkraft birgt. Und schließlich erzählt Ward in einem ausführlichen Parallelstrang vom harten Schicksal verschleppter bajoranischer Arbeiter in dem bereits eingangs erwähnten Gefangenenlager, wozu er sich völlig hemmungslos an 2.-Weltkriegs-Lagerfilmen wie Gesprengte Ketten bedient hat.
Das alles spannt ein großes Panorama auf und liest sich wirklich spannend. Dabei fiebert man gleichermaßen mit den völlig neuen Protagonisten des Gefangenenlagers mit, wie man sich über die Personalverschränkungen zwischen den Mannschaften der Serien The Next Generation und Deep Space Nine freut. Leider ist die Geschichte letztlich doch etwas zu groß für nur ein Buch. Das merkt man, als es Richtung Finale geht. So endet der Verhandlungs-Erzählstrang eher etwas ernüchternd und auch der Seuchen-Erzählstrang nimmt eine leicht verwirrende Wende. Schließlich kommt es zu einem Sabotage-Akt, der katastrophal zu sein scheint, dann aber doch ganz gut in den Griff zu kriegen ist. Hier hat man im Detail das Gefühl, dass Ward ein wenig ins Schleudern geraten ist angesichts der Komplexität des Projekts. Das macht den Roman aber keineswegs schlecht. Es wird halt unter anderem klar, dass gewisse Dinge sein müssen und andere nicht sein dürfen, weil das Werk unmittelbar vor der Doppelfolge Emissary angesiedelt ist und daher noch mehr als andere Tie-In-Abenteuer an bestimmte, von der TV-Serie geschaffene Fakten gebunden ist.
Das Fazit
Letzten Endes nutzt Perspektiven diese winzige erzählerische Lücke zwischen zwei wichtigen Serien-Doppelfolgen fast perfekt aus. Es wird zwar kein allumfassendes Bild des Rückzugs der Cardassianer gezeichnet, aber doch ein vielschichtiges, das von der hohen Politik bis hinunter zu einfachen Flüchtlingen und Kriegsgefangenen reicht. Dass sich die Föderation in der Bajor-Sache nicht mit Ruhm bekleckert hat und jetzt eine Menge wiedergutmachen muss, wird vielleicht ein paarmal zu oft wiederholt. Andererseits ist die Botschaft, die Ward hier vermittelt, nämlich dass man sich als machtvoller interstellar player nicht unter gemütlichen Ausreden zurücklehnen darf, während andere leiden, vielleicht in heutigen Tagen aktueller und wichtiger denn je.
Star Trek – The Next Generation: Perspektiven von Dayton Ward
Cross Cult 2025 / ISBN: 978-3-98666-669-9
448 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 16,00
Informationen zum Redakteur

Bernd Perplies
Website: http://www.bernd-perplies.de
Facebook: https://www.facebook.com/bernd.perplies
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Perplies
Bernd Perplies verbringt schon sein ganzes Leben mit Zwergen und Sturmtrupplern, Vampiren und Vulkaniern. Prägende Jugendjahre voller Abenteuer an der Seite von Perry Rhodan, Jean-Luc Picard, Gandalf und Luke Skywalker sorgten für eine Anhäufung unnützen Wissens über neue Welten, neues Leben und neue Zivilisationen fernab der Realität. Um dieses Wissen sinnvoll weiterverwerten zu können, entschied er sich für eine Laufbahn als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist.
Seitdem hat er zahllose Artikel für die SpaceView, das Phantastika Magazin und Tor Online verfasst, rund 20 Star Trek-Romane (und ein bisschen Genre-Beifang links und rechts) übersetzt, etwa 1000 Seiten an Playmobil-Magazin-Comics ersonnen und annähernd 50 phantastische Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben, darunter die Magierdämmerung-Trilogie, offizielle Beiträge zu Shadowrun und BattleTech, die Drachengasse 13-Reihe und Star Trek Prometheus, den Geburtstagsdreiteiler des Cross-Cult-Verlags zum 50-jährigen Jubiläum von Captain Kirk & Co.
Bernd Perplies lebt mit seiner Familie (und einer einzelnen tapferen Grünpflanze) unweit von Stuttgart in einem Labyrinth aus Billy-Regalen voller Bücher, Filme und Brettspiele.
