Das Genre des Fantasy-Films hat immer wieder nicht nur eigenwillige Geschichten hervorgebracht, sondern auch eigenwillige Produktionen. Man denke hier beispielsweise an die 3D-Monsterfilme der 50er-Jahre, die nur mit Rot/Grün-Brille zu genießen waren – und ich verwende den Begriff „genießen“ hier sehr großzügig. Oder an den Herr der Ringe-Film von Ralph Bakshi, der mit echten Schauspielern gedreht wurde, die danach übermalt wurden, um einen Zeichentrickfilm von wahrhaftig ungewöhnlicher Ästhetik zu schaffen.
Lass die Puppen tanzen
Auch der Film Der Dunkle Kristall von Jim Henson aus dem Jahr 1982 fällt in diese Kategorie, denn es handelt sich – beim Schöpfer der Muppets und Yoda kaum überraschend – um ein Fantasy-Märchen in Spielfilmlänge, in dem ausschließlich Puppen als Protagonisten auftreten. Allerdings hat der Film mit einer Sendung der Augsburger Puppenkiste rein gar nichts gemeinsam, denn zum einen wurde tatsächlich auf riesigen Sets und sogar in freier Natur gedreht, zum anderen sind die Puppen hier doch um einiges komplexer. In vielen von ihnen, etwa den finsteren Skeksen oder den sanftmütigen Uru steckten menschliche Körperdarsteller drin, die allerdings durch mehrere Puppenspieler unterstützt wurden, die für verschiedene Teile der animatronisch gesteuerten Geschöpfe – etwa die Augen oder die Mimik – verantwortlich waren. (Es existiert eine sehenswerte, ca. 45-minütige Dokumentation namens The World of the Dark Crystal, die demonstriert, wie aufwändig die Dreharbeiten zu Der Dunkle Kristall waren.)
Dabei fallen nicht nur die Geschöpfe des Films auf – viele von ihnen inspiriert durch die märchenhaften Zeichnungen des britischen Fantasy-Künstlers Brian Froud, der auch als Konzeptdesigner am Film mitwirkte. Auch die Kulissen wirken regelrecht fantastisch und sind von einer exzentrischen Detailfreude, die davon zeugt, wie viele Gedanken sich Henson und seine Mitstreiter, darunter auch Co-Regisseur Frank „Yoda“ Oz und Produzent Gary Kurtz, gemacht haben. Tatsächlich entstanden die Welt und ihre Bewohner zuerst, wie Kurtz erzählt. Erst danach wurde die Geschichte entwickelt, eine eher ungewöhnliche Methode für einen Film.
Eine klassische Quest
Die Story ist vielleicht auch der schwächste Part des Ganzen. Vor Ewigkeiten verlor ein magischer Kristall im Herzen der Welt Thra sein Licht, denn ein Splitter von ihm wurde entfernt und verschwand. Der Kristall wurde dunkel und die bösartigen Skekse – von Henson & Co übrigens an die sieben Todsünden angelehnt – übernahmen die Herrschaft. Nach vielen Konflikten sind nur noch zehn Skekse und zehn Uru, weise, gutmütige Mystiker und die Gegner der Skekse, übrig. Unter den Mystikern lebt außerdem der junge Gelfling Jen, scheinbar der letzte seiner Art. Ihm wird eines Tages von seinem sterbenden Meister die Aufgabe übertragen, loszuziehen und den verlorenen Splitter zu finden, bevor eine große Konjunktion der drei Sonnen das Land ein für alle Mal in die Finsternis stürzt. Auf seiner Heldenreise lernt Jen kuriose Freunde, gefährliche Feinde und das Gelfling-Mädchen Kira kennen, bevor es in der Festung der Skekse zum krachenden Showdown kommt.
Man sieht: Das ist nun wirklich Abenteuererzählen aus dem Grundkurs für Autoren. Eine Heldenreise mit den typischen Elementen wie sie klassischer kaum sein könnte (Das Buch The Hero with a Thousand Faces von Joseph Campbell lässt grüßen, in den 1970ern und 1980er unter jungen Filmemachern offenbar sehr beliebt.) Doch darum geht es in Der Dunkle Kristall auch gar nicht, zumindest nicht primär. Der Film ist ein Märchen im besten Wortsinne und er zieht seinen ganzen zauberhaften Charme aus der Gestaltungsfreude der Designer bei der Jim Henson Company. Wenn die Kamera vor einem exotischen Urwald vorbeizieht und in jeder Ecke ein knuffiges oder bizarres Geschöpf aus dem Gras, einem Tümpel oder dem Loch in einem Baumstamm hervorlugt, dann zaubert das dem Zuschauer wie von selbst ein staunendes Lächeln auf die Lippen.
Ich will nicht lügen. Natürlich vermag CGI heute viel mehr als die Puppenspieler von damals zustande brachten. Wem der nostalgische Blick fehlt, der wird vermutlich einiges ungelenk und „künstlich“ finden, Tricktechnik von gestern eben. Echte Kenner jedoch wissen um den Kultstatus, den Der Dunkle Kristall genießt, und dass gerade das Unperfekte, aber hemmungslos Phantastische den Film so liebenswert macht.
Mehr als nur ein Film
Und weil die Kinder von damals die Macher von heute sind, kehrte Netflix 2019 tatsächlich in die Welt der Gelflinge zurück. Die 10-teilige Serie Der dunkle Kristall: Ära des Widerstands wurde erneut von der Jim Henson Company realisiert und erneut – und wie aus der Zeit gefallen – mit Puppen in der Hauptrolle gefilmt. Erzählt wird ein Prequel zu Der Dunkle Kristall, und es geht um drei Gelflinge, die sich gegen die Terrorherrschaft der Skekse stellen. Allerdings war der Serie nur ein kurzes Leben beschert. Nach einer Staffel wurde die Serie bereits eingestellt. Schauen kann man sie natürlich nach wie vor bei dem Streaming-Dienst.
Und wem das immer noch nicht genug ist, für den gibt es auch einige Lesestoff. So wurde die Streaming Serie auch in vier Büchern (Ära der Schatten, Zeit der Lieder, Nacht der Gezeiten und Stunde der Flammen) adaptiert. Außerdem existiert eine ältere Prequel-Trilogie als Comic unter dem Titel Creation Myths, die sich mit dem Ursprung der Skekse, Mystiker und Gelflinge beschäftigt. Eine „offizielle“ Fortsetzung des ursprünglichen Films ist dagegen die in drei Comic-Bänden erschienene Story Power of the Dark Crystal. Reichlich Stoff also, um sich „bis in die Puppen“ in der Welt des Dunklen Kristalls zu verlieren – sorry, für das Wortspiel.
Informationen zum Redakteur
Bernd Perplies
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Bernd Perplies verbringt schon sein ganzes Leben mit Zwergen und Sturmtrupplern, Vampiren und Vulkaniern. Prägende Jugendjahre voller Abenteuer an der Seite von Perry Rhodan, Jean-Luc Picard, Gandalf und Luke Skywalker sorgten für eine Anhäufung unnützen Wissens über neue Welten, neues Leben und neue Zivilisationen fernab der Realität. Um dieses Wissen sinnvoll weiterverwerten zu können, entschied er sich für eine Laufbahn als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist.
Seitdem hat er zahllose Artikel für die SpaceView, das Phantastika Magazin und Tor Online verfasst, rund 20 Star Trek-Romane (und ein bisschen Genre-Beifang links und rechts) übersetzt, etwa 1000 Seiten an Playmobil-Magazin-Comics ersonnen und annähernd 50 phantastische Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben, darunter die Magierdämmerung-Trilogie, offizielle Beiträge zu Shadowrun und BattleTech, die Drachengasse 13-Reihe und Star Trek Prometheus, den Geburtstagsdreiteiler des Cross-Cult-Verlags zum 50-jährigen Jubiläum von Captain Kirk & Co.
Bernd Perplies lebt mit seiner Familie (und einer einzelnen tapferen Grünpflanze) unweit von Stuttgart in einem Labyrinth aus Billy-Regalen voller Bücher, Filme und Brettspiele.