Manchmal verbindet man ein Detail mehr als alles andere in der eigenen Erinnerung mit einem ganz bestimmten Film. Denke ich beispielsweise an Blade Runner, kommt mir vor allem der atmosphärische elektronische Klangteppich von Vangelis in den Sinn. Und wenn jemand Tanz der Vampire (den Film, nicht das Musical) erwähnt, beschwört er damit unwillkürlich das Bild einer badenden Sharon Tate in mir herauf, der ein unheimlicher Kerl mit echt fiesem Gebiss von der Zimmerdecke entgegenfällt (die Szene wurde seinerzeit in der Werbung zum „Wunschfilm“ im ZDF gezeigt und kam mir als Kind furchtbar gruselig vor).
Wenn ich an Das letzte Einhorn denke, erinnere ich mich vor allem an die Stimme von Christopher Lee, der auch in der deutschen Synchronisation – genau wie im englischen Original – den finsteren, unglücklichen König Haggard zum Leben erweckte. Heute kenne ich Lee natürlich. Ich weiß, dass er Brite war, und seine unverwechselbare Stimme ist mir vertraut. Doch als Junge von vielleicht sieben Jahren hatte ich keine Ahnung. Ich hörte nur diese dunkle, leise, eigentümlich weiche und … anders klingende Stimme. „Was ist mit deinen Augen? Warum kann ich mich nicht sehen in deinen Augen?“, fragt Christopher Lee, als König Haggard die geheimnisvolle Lady Amalthea näher betrachtet, die er gemeinsam mit einer Streuerin und einem Möchtegernzauberer in seine verfallene Festung am Ende der Welt eingeladen hat. Diese Frage habe ich nie vergessen.
Poesie und Dunkelheit fernab von Disney
Der Zeichentrickfilm Das letzte Einhorn wurde nach dem gleichnamigen Fantasy-Weltbestseller aus der Feder von Peter S. Beagle adaptiert – wobei Beagle selbst das Drehbuch schrieb –, und kam 1982 unter der Regie von Jules Bass und Arthur Rankin Jr. in die Kinos. Seitdem scheiden sich an ihm die Geister. „Kitschig“ dürfte wohl das am häufigsten verwendete Adjektiv der Kritiker sein. „Ein wunderbares Märchen“ nennen ihn die anderen. Der Film, der von dem japanischen Animationsstudio Topcraft hergestellt wurde (aus dessen bankrotten Überresten sich später das berühmte Studio Ghibli formte), mag nicht der große Wurf in Sachen Animationstechnik gewesen sein – wenngleich die Hintergründe ausgesucht atmosphärisch daherkommen. Doch er erzählt seine Geschichte von einem Einhorn, das erfahren muss, dass es das letzte ist, und sich daraufhin auf die beschwerliche Suche nach seinen Artgenossen macht, mit einem so tiefen Ernst und, gerade gegen Ende, einer solch emotionalen Kraft, dass man sich ihm kaum entziehen kann – zumindest wenn man kein ganz grober Klotz ist.
Liebenswerte Nebenfiguren wie der gutmütige Magier Schmendrick und die vom Leben enttäuschte, aber sehnsuchtsvoll träumende Räuberbraut Molly Grue, der Antagonist Haggard, dessen Herz so grau geworden ist, dass Freude und Glück für ihn nur noch in pervertierten Zerrbildern existieren, und der Soundtrack von Jimmy Webb, der die Handlung treffend begleitende Songs (dargeboten von der Gruppe „America“) sowie einen wuchtigen und von Leitmotiven strotzenden Orchesterscore bietet: All das zeichnet Das letzte Einhorn aus. Doch es ist vor allem die außergewöhnlich poetische Romanvorlage, deren Dialoge dem Film seinen Sonderstatus unter den märchenhaften Zeichentrickfilmen verleihen. Figuren wie der Schmetterling, der dem Einhorn zu Beginn den Weg weist, oder der räudige Kater im Schloss von König Haggard, wären in einem Disney-Film vermutlich zu seichten Lachnummern verkommen. Hier werden ihnen Sätze in den Mund gelegt, die ihnen unerwartete Tiefe verleihen.
Ein Klassiker, der inspiriert
Einhörner sind unsterbliche Wesen, die niemals vergehen, selbst wenn sie vergessen wurden. Dieser Film ist ihnen irgendwie ähnlich. Man mag sich nach vielen Jahren nur noch an die Stimme von Christopher Lee erinnern, aber wenn man ihn dann erneut schaut, ist die ganze märchenhafte Atmosphäre wieder da, unberührt von den Jahrzehnten, die seit seiner Entstehung vergangen sind. Dann schmunzelt man einmal mehr über die Possen und Missgeschicke von Schmendrick, wird wie der Sohn des Königs, Prinz Lir, von der zauberhaften Lady Amalthea betört, und spürt regelrecht die Wucht des Roten Stiers, jenes Monsters, über das der König gebietet und das eine so entscheidende Rolle beim Verschwinden der Einhörner gespielt hat. Mehr kann man von einem Film, der zurecht ein Klassiker der Fantasy genannt wird, nicht verlangen.
Eine Nähkästchen-Plauderei am Schluss: Der Grimmwolf, jenes Ungetüm, das in meinem Debütroman Tarean – Sohn des Fluchbringers das Heer aus Wolflingen des Hexenmeisters Calvas anführt, wurde übrigens vom Roten Stier inspiriert. In meiner Vorstellung war der Dämon eine ähnlich flammende Bestie wie der Häscher der Einhörner in Das letzte Einhorn – bloß eben in Gestalt eines gewaltigen Wolfs, statt eines Stiers.
Informationen zum Redakteur
Bernd Perplies
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Bernd Perplies verbringt schon sein ganzes Leben mit Zwergen und Sturmtrupplern, Vampiren und Vulkaniern. Prägende Jugendjahre voller Abenteuer an der Seite von Perry Rhodan, Jean-Luc Picard, Gandalf und Luke Skywalker sorgten für eine Anhäufung unnützen Wissens über neue Welten, neues Leben und neue Zivilisationen fernab der Realität. Um dieses Wissen sinnvoll weiterverwerten zu können, entschied er sich für eine Laufbahn als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist.
Seitdem hat er zahllose Artikel für die SpaceView, das Phantastika Magazin und Tor Online verfasst, rund 20 Star Trek-Romane (und ein bisschen Genre-Beifang links und rechts) übersetzt, etwa 1000 Seiten an Playmobil-Magazin-Comics ersonnen und annähernd 50 phantastische Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben, darunter die Magierdämmerung-Trilogie, offizielle Beiträge zu Shadowrun und BattleTech, die Drachengasse 13-Reihe und Star Trek Prometheus, den Geburtstagsdreiteiler des Cross-Cult-Verlags zum 50-jährigen Jubiläum von Captain Kirk & Co.
Bernd Perplies lebt mit seiner Familie (und einer einzelnen tapferen Grünpflanze) unweit von Stuttgart in einem Labyrinth aus Billy-Regalen voller Bücher, Filme und Brettspiele.