Andere Welten

Bücherecke: Octavia E. Butler: Die Parabel der Talente

© Heyne

Birgit Schwenger empfiehlt “Die Parabel der Talente”, die Fortsetzung von Butlers dystopischen Meisterwerk, erstmals in deutscher Übersetzung.

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Amerika im Jahr 2032: Lauren Olamina ist es gelungen, auf dem Grundstück ihres Mannes Bankole im Norden Kaliforniens eine Heimstatt für ihre kleine Gruppe an Gleichgesinnten zu aufzubauen. Abgelegen und weit entfernt von den großen Städten, haben sie Acorn, ihre kleine, sich selbst versorgende Gemeinschaft gegründet, die auf den Prinzipien von Earthseed fußt, der von Olamina ins Leben gerufenen Religion. Alle bringen ihre Fähigkeiten ein, der Erwerb von Wissen und dessen Teilen in der Gemeinschaft ermöglicht ihnen ein einfaches Leben nach ihren Prinzipien, die sich auf fortwährende Veränderung berufen, an die sich der Mensch anpassen muss.

Der Alltag ist hart und mit viel Arbeit verbunden, aber sie sind genügsam, unterrichten ihre Kinder und wertschätzen, was sie erreicht haben. Sie sind stark genug, um sich gegen Diebe oder kleinere Gangs verteidigen zu können, und fühlen sich allmählich in Sicherheit – nach all dem Schrecklichen, was sie erlebt haben. Versklavt, vergewaltigt, halb verhungert und der brutalen Gewalt anderer ausgeliefert, scheint sich das Leben der kleinen Gemeinschaft, ebenso wie das der Amerikaner allgemein, wieder besseren Zeiten zuzuwenden.

Der Schein trügt

Doch wie unsicher und gefährlich ihre Lage weiterhin bleibt, zeigt sich, als Olamina mit einem kleinen Erkundungstrupp auf der Suche nach neuen Materialien, Pflanzen und anderen Stoffen, die sie verwerten können, plötzlich unter Beschuss gerät. Schneller als es ihnen lieb sein kann, hält die brutale Wirklichkeit Einzug in ihr geschütztes Leben in Acorn: Die neuen Mitglieder, die zu ihrer Gemeinschaft stoßen, haben Grauenvolles erlebt und berichten von brutalen Verbrechen, die die Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Jarret im Namen seiner Christian America-Kirche begehen.

»Make America great again« ist sein Slogan. Er verspricht, wieder für Recht und Ordnung zu sorgen und das verbrecherische Gesindel auf den Straßen zu disziplinieren. Olamina fürchtet, dass dies für die Bewohner Acorns nichts Gutes bedeuten wird, denn Earthseed wird von Jarrets Anhängern, die sich selbst Kreuzritter nennen, als heidnischer Kult dargestellt, der Kinder entführt und christliche Nachbarschaften überfällt und ausraubt.

Zukunftsvision oder fast schon Realität?

Wie schon im ersten Band Die Parabel vom Sämann beschreibtOctavia E. Butler auch in der Fortsetzung das Amerika der Zukunft erschreckend realistisch und fast schon visionär – liegen doch immerhin 26 Jahre zwischen der Erstveröffentlichung des Buches 1998 und der nun erstmals im Heyne Verlag erschienen deutschen Übersetzung. »Make America great again«, heute als Trumps Wahlspruch bekannt, war 1998 als Slogan von Ronald Reagan populär. Jarrets Christian America weckt geradezu beängstigende Assoziationen an die Evangelikalen, die den harten Kern von Trumps Anhängerschaft bilden. Zwar rufen diese (noch) nicht zu öffentlichen Hexenverbrennungen auf, aber sie machen bereits jetzt Jagd auf Abtreibungsärzte und -befürworter sowie queere Menschen und andere, die ihren Vorstellungen von einem weißen, konservativ-christlich geprägten Amerika nicht entsprechen. Statt in Trailerparks leben die Armen in Zeltstädten vor den Toren der großen Städte und versuchen sich mit zahlreichen Gelegenheitsjobs irgendwie durchzuschlagen.

Haltlose Versprechen

Olamina ist zu Beginn des Buches 22 Jahre alt. Auch Die Parabel der Talente ist wieder aus Sicht ihrer Tagebucheinträge erzählt. Allerdings werden diese, ebenso wie die Aufzeichnungen ihres Mannes Bankole, von ihrer erwachsenen Tochter wiedergegeben, die sich auf diesem Wege versucht, ihrer Mutter anzunähern. Auch wenn sich die Lage 2032 in Amerika allmählich zu bessern scheint und die vergangenen Jahre inzwischen offiziell als „Syphilis“ bezeichnet werden, die schlimme Zeit der „Krankheit“ aber angeblich vorbei sei, ist das gesellschaftliche Klima noch immer von Angst geprägt.

Olamina sieht diese Angst als Grund für die Passivität vieler Menschen an, die wollen, dass ihre Kinder in Sicherheit aufwachsen können und Gewalt und die Armut für sie ein Ende hat. Dafür sind sie bereit, jedem zu folgen, der ihnen das verspricht. Bereit, einem erklärten Sündenbock die Schuld zu geben – für alles Schreckliche, was geschehen ist und noch immer geschieht. Schließlich soll mit der Bestrafung der Schuldigen alles wieder gut werden. Was wirklich passiert, wollen viele Menschen nicht sehen, denn wie sollten sie sonst ihren Glauben an eine bessere Zukunft aufrechterhalten?

So versteht Olamina auch, dass Jarret gar nicht anders kann, als der neu geschlossenen Allianz aus Alaska, das sich von Amerika losgesagt hat, Kanada und Russland den Krieg zu erklären, um »die Leute um Flagge, Vaterland und ihren großen Anführer zu scharen« und davon abzulenken, dass sich die Probleme des Landes nicht einfach so in Luft auflösen werden. Die Kluft zwischen Reichen und Armen klafft immer weiter auseinander: Während die einen in Sicherheit in geschützten Anlagen mit allem Komfort leben, müssen die anderen tagtäglich um ihr Überleben kämpfen, in Zeltstädten hausen und sich als Tagelöhner verdingen.

Für ihre Kinder gibt es weder ausreichend zu essen, geschweige denn Bildung oder Aussicht auf eine bessere Zukunft. Wer obdachlos ist oder einfach dafür erklärt wird, wer heidnischer Gebräuche bezichtigt wird, als Gegner des Systems gilt oder anderweitig auffällt – z. B. durch Besitz, den sich Jarrets Regime aneignen will –, ist seines Lebens nicht mehr sicher. Offiziell ist Sklaverei nach wie vor verboten, aber wer arm ist, zu schwach oder zu jung, um sich zu schützen, ist Willkür und Gewalt hoffnungslos ausgeliefert.

Erschreckend aktuell und realistisch

Sowohl Die Parabel vom Sämann als auch Die Parabel der Talente haben bis heute leider nichts von ihrer Aktualität verloren. Die erschreckende Brutalität und Grausamkeit der Ereignisse sind manchmal nur schwer zu ertragen, aber dennoch oder gerade deswegen sollten die Bücher gelesen werden, um diese Zukunftsvision nicht Realität werden zu lassen: »Ergreife die Veränderung. Nutze sie. Passe dich an und wachse.«, schreibt Olamina in einem ihrer Earthseed-Verse. Denn man kann aus der Vergangenheit lernen, aber man muss sie auch loslassen können, um sich weiterzuentwickeln und mit den Veränderungen, die das Leben mit sich bringt, fertig zu werden.

Olamina weiß, dass nur überleben allein nicht reicht, die Menschen brauchen ein Ziel vor Augen, das sie ihnen mit Earthseed geben will, damit das Leben nicht nur ein andauernder Kreislauf aus immer neuen Kriegen und Konflikten bleibt, die Armut, Seuchen und Hunger verbreiten und am Ende nur noch mehr Elend erzeugen. Wer sich nur von Gefühlen und Angst lenken lässt, wird sein Ziel letztlich aus den Augen verlieren. Nur wenn die Menschen lernen zusammenzuarbeiten, werden sie eine bessere Zukunft erschaffen.

Über die Autorin

Für Die Parabel der Talente wurde Octavia E. Butler 2000 mit dem Nebula Award für den besten Roman ausgezeichnet. Längst ist die Autorin, die sich als erste farbige Autorin in der Science-Fiction einen Namen gemacht hat, eine der wichtigsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Zu ihren bekanntesten Werken zählen der Zeitreiseroman Kindred, der in die Zeit der Sklaverei zurückführt und als Serie für Disney+ verfilmt wurde, sowie die Xenogenesis-Trilogie, für die ebenfalls bereits eine Adaption geplant ist.

Ursprünglich hatte Butler geplant, noch weitere Parabel-Romane zu schreiben und mit dem Schreiben eines dritten Romans, der Parabel des Tricksters, bereits begonnen, als sie 2006 an den Folgen eines Unfalls starb, so dass dieser ein Fragment blieb.

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