Andere Welten

Bücherecke: Octavia E. Butler: Die Parabel vom Sämann

© Heyne

Birgit Schwenger empfiehlt das dystopische Meisterwerk “Die Parabel vom Sämann” in neuer Übersetzung.

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Amerika im Jahr 2024: Die 14-jährige Lauren Olamina lebt mit ihrer Familie in Kalifornien, in der Nähe von Los Angeles. Der Klimawandel, Wirtschaftskrisen und andere Katastrophen haben das Land – und vermutlich auch den Rest der Welt – an den Rand des Abgrundes gebracht. Wer sich nicht hinter hohen Mauern mit ausreichend Sicherheitsvorkehrungen verschanzen kann, hat kaum eine Chance zu überleben. Wer zu arm ist und auf der Straße oder in alten, verlassenen Häuserruinen hausen müssen, ist leichte Beute.

Vor allem Frauen sind sexueller Gewalt ausgesetzt, aber auch Kinder werden nicht verschont. Ein Menschenleben ist nichts mehr wert, drogenabhängige Banden ziehen durchs Land, rauben, morden und plündern, den Rest erledigen die wilden Hunde. Wer überleben will, darf keine Schwäche zeigen und muss über genügend Waffen und Munition verfügen, um potentielle Angreifer am besten von vornherein abschrecken zu können.

Trügerische Sicherheit

Lauren hat großes Glück, dass sie mit ihrer Familie in einer dieser beschützten Nachbarschaften, wenn auch in einfachsten Verhältnissen, lebt. Einige der Erwachsenen haben sogar noch Arbeit und verdienen Geld, um Wasser – das kostbarste Gut überhaupt –, Kleidung und andere überlebensnotwendige Dinge beschaffen zu können, die sie nicht selbst herstellen oder anpflanzen können. Regnen tut es nur noch alle fünf bis sechs Jahre. Laurens Vater ist der Pastor der kleinen Gemeinschaft und genießt hohes Ansehen.

Laurens Stiefmutter fungiert als Lehrerin für die Kinder: Neben lesen, schreiben und rechnen steht auch Überlebenskunde auf dem Lehrplan inklusive Schießunterricht für die älteren Kinder. Es ist ein gefährliches Leben, jeder Fehler kann zum Tod führen. Lauren hat es doppelt schwer, denn sie leidet an Hyperempathie – sie empfindet die Gefühle eines anderen Menschen, als seien es ihre eigenen. Wenn sie jemanden schlägt, könnte dies ihren eigenen Tod bedeuten, weil sie die Schmerzen auch selbst erleiden muss. Doch trotz allem gibt Lauren die Hoffnung nicht auf: Sie will leben und dafür wird sie kämpfen, auch wenn ihr Weg kein Weg der Gewalt sein soll. Zwar hat sie den Glauben an die Religion und den Gott ihrer Eltern längst verloren, denn dieser Gott hilft nicht, er schaut tatenlos zu, wie die Zivilisation zu Grunde geht, brutale Gewalt und Kriminalität die Oberhand gewonnen haben.

Überleben ist das einzige, was zählt

So beschließt Lauren ihre eigene Religion zu gründen, die auf dem Grundsatz fußt, dass Gott Veränderung ist: »Die einzig überdauernde Wahrheit ist Veränderung.« Die Menschen müssen sich anpassen, um zu überleben. Der Vergangenheit nachzutrauern, wie es die Erwachsenen tun, bedeutet Warten aufs Ende. Doch Laurens Generation hat nur die Zukunft, sie haben nie bessere Zeiten gekannt, auf deren Rückkehr sie hoffen könnten.  »Leben! Das ist alles, was wir jetzt noch tun können. Leben. Durchhalten. Überleben.«, das war die Devise ihres Vaters, die Lauren befolgt, als die Siedlung einiges Tages angegriffen wird und sie fliehen muss.

Gemeinsam mit anderen Überlebenden macht sie sich auf den Weg nach Norden, nach Kanada oder Alaska, wo ein normales Leben noch möglich sein soll. Unterwegs auf den verlassenen Highways, inmitten der Junkies, Prostituierten und anderen Geflüchteten, findet Lauren Gleichgesinnte und fasst Vertrauen, dass ein friedliches Zusammenleben vielleicht doch noch möglich sein könnte.

Zeitloser Klassiker

Nachdem dieser Klassiker der amerikanischen Literatur, der bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat, lange Zeit auf Deutsch nicht mehr erhältlich war, liegt Octavia Butlers Meisterwerk in neuer Übersetzung von Dietlind Falk (No Regrets) und mit einem Vorwort von N. K. Jemisin (The Inheritance Trilogy, The Broken Earth) als Taschenbuchausgabe im Heyne Verlag vor.

In Amerika erreichte das Buch bereits 2020 während der Black-Lives-Matters-Proteste neue Aktualität. 1993 geschrieben, basierend auf Butlers Eindrücken der schweren Unruhen in Los Angeles 1992 nach der Ermordung des Farbigen Rodney King durch Polizisten, setzt die Handlung des Roman 2024 ein. Die 448 Seiten, aus der Sicht von Lauren als Tagebucheinträge geschrieben, lesen sich trotz der Intensität des Stoffes sehr flüssig und einfach.

Die erschreckende Brutalität und Grausamkeit der Ereignisse werden ausschließlich aus Laurens Sicht gefiltert beschrieben. An keiner Stelle artet das Geschehen in einen Gewaltporno aus. Der Schrecken ist da, aber die Hoffnung bleibt immer bestehen. Nicht umsonst stellt Butler eine Gruppe von Menschen in den Mittelpunkt, die sich hilft und für einander zu sorgen versucht.

Beängstigend realistische Zukunftsvision

Butler nimmt die Konsequenzen des Klimawandels vorweg, vielmehr aber noch die gesellschaftlichen Entwicklungen, den Rechtsruck (nicht nur) in Amerika, die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Reich und Arm, die Auswüchse moderner Sklaverei, die in Die Parabel vom Sämann 2024 längst zum fast völligen Zusammenbruch der Zivilisation und einer unglaublichen, gewissenlosen Brutalität geführt haben, die ein menschliches Zusammenleben kaum noch möglich erscheinen lässt.

Die Genauigkeit, mit der Octavia E. Butler 1993 vieles von dem bereits vorhergesehen und präzisiert hat, was die Welt heute mehr denn je in den Abgrund blicken lässt, ist erschreckend und heute, als die Vision dabei ist Realität zu werden, noch wirkmächtiger als 1993 bei der ursprünglichen Veröffentlichung des Romans.

Die Dinge verändern sich, und sie werden sich immer weiter verändern. Wir können entweder damit aufhören, die Realität zu verleugnen, oder hoffen, dass sie man wegzaubern kann – so beschreibt Lauren es ihrem Vater gegenüber, als sie wieder einmal darüber verzweifelt, dass die Leute so tun, als würde nichts Schlimmes passieren, wenn man nicht darüber spricht.

Das möchte man heute auch gern manchen Menschen zurufen, die lieber den Kopf in den Sand stecken, als die Probleme anzugehen. Anderseits ist die Perspektive ihres Vaters auch richtig: Darüber zu reden, macht den Leuten Angst, es könnte Panik ausbrechen. Aber es ist nie gut, eine Gefahr zu ignorieren, erkennt Lauren. Wer die Augen davor verschließt und nicht bereit ist, sich anzupassen, hat schon verloren.

Über die Autorin

Octavia Estelle Butler war die erste farbige Autorin, die sich in der Science-Fiction einen Namen gemacht und später auch mit zahlreichen angesehenen Preisen ausgezeichnet wurde, u. a. dem Hugo-, dem Nebula- und dem Locus-Award. Heute gilt sie, weit über das Genre hinaus, als einige der wichtigsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Zu ihren bekanntesten Werken zählen der Zeitreiseroman Kindred, die in die Zeit der Sklaverei zurückführt und als Serie für Disney+ verfilmt wurde, sowie die Xenogenesis-Trilogie, für die ebenfalls bereits eine Adaption geplant ist.

Unbedingte Leseempfehlung

Ein sehr wichtiges, Buch, das auch hierzulande zum allgemeinen Kanon zählen und von möglichst vielen gelesen werden sollte. Ein Buch, das die Kraft der Veränderung nicht nur als Gefahr, sondern auch als Möglichkeit, als Perspektive für die Zukunft sieht. Und auch ein apokalyptisches Endzeitabenteuer, das den Vergleich mit Margaret Atwoods Report der Magd oder Corman McCarthys Die Straße nicht scheuen muss. Unbedingt lesen!

Der zweite Band, Die Parabel der Talente, ist auf Deutsch für den 13. März 2024 angekündigt. Ursprünglich war noch ein dritter Roman geplant, aber Butler starb 2006 an den Folgen eines Unfalls, so dass dieser ein Fragment blieb.

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