Andere Welten

Bücherecke: Stephen King: Fairy Tale

© Heyne

Die Gebrüder Grimm lassen grüßen: Stephen King im Reich der Märchen. In unserer Bücherecke spricht Birgit Schwenger heute über “Fairy Tale”.

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Der 17-Jährige Charlie Reade hat es nicht leicht: Als er sieben Jahre alt ist, kommt seine Mutter bei einem schrecklichen Unfall ums Leben, was seinen Vater in die Alkoholsucht treibt. Viel zu schnell muss der kleine Charlie erwachsen werden und lernen sich um sich selbst zu kümmern. Als es seinem Vater mit Hilfe eines guten Freundes tatsächlich gelingt, seine Sucht in den Griff zu bekommen, ist Charlie überzeugt, dass sein Handel mit Gott dies bewirkt hat: Wenn dieser seinen Vater rettet, hat Charlie versprochen, dafür eine wahrhaft gute Tat zu vollbringen.

Zwar hilft er in der Nachbarschaft und in der Schule schon, wo er kann, aber als er den zurückgezogen lebenden Nachbarn Mr. Bowditch verletzt und hilflos in seinem Garten auffindet, ist Charlie klar, dass es seine Aufgabe ist, sich um den alten Griesgram zu kümmern. Dafür opfert er seine Sommerferien und gibt auch – sehr zum Unmut seines Trainers und seiner Mitspieler – das Baseball-Training in der Schulmannschaft auf.

Ende gut, alles gut?

Der alte Mr. Bowditch mit seinen Marotten und seinem Faible für alte Sachen wächst Charlie ebenso schnell ans Herz wie seine Schäferhündin Radar, die genau wie ihr Herrchen schon bessere Zeiten gesehen hat. Nach und nach beginnt Bowditch sich Charlie gegenüber zu öffnen und enthüllt ihm, als klar wird, dass seine Tage endgültig gezählt sind, seine tiefsten Geheimnisse: So bewahrt er in seinem Safe einen Eimer voller Goldkügelchen auf und hütet in seinem Gartenschuppen den Zugang zu einer geheimen Welt in den Tiefen der Erde.

Nach Mr. Bowditch Tod macht Charlie sich daran, die verborgenen Wunder dieser Welt zu erkunden. Er ist völlig fasziniert von dieser anderen, fremden Welt, und so sehr ihn auch die Verlockung des Goldes in ihren Bann zieht, ist es doch Charlies eigentliches Ziel Radars Leben zu retten: Ein magisches Sonnenkarussell vermag den Zauber der Jugend zu verleihen.

Doch schon die ersten Schritte in der Anderwelt, so nennt Charlie das phantastische Reich, auf das er stößt, machen ihm klar, dass ihm ein großes Abenteuer bevorsteht. So idyllisch das Märchenreich auf den ersten Blick scheinen mag, so bedrohlich ist es auf den zweiten: Gefährliche Kreaturen treiben ihr Unwesen und auf den Bewohnern lastet ein Fluch. Ist Charlie der prophezeite Held, der die Prinzessin retten und alles zum Guten wenden kann?

Auf dem Weg in die Anderwelt

„Es war einmal … “ – mit diesen Worten endet Stephens Kings neuer Roman Fairy Tale, der eine bestechende Hommage an die Welt der Mythen und Märchen darstellt. Auch wenn es an die 250 Seiten dauert, bis das Element des Phantastischen in die Geschichte Einzug hält, soll das keineswegs heißen, dass es der Anfang des Buches nicht wert ist, gelesen zu werden – im Gegenteil!

King erzählt die tragische und dennoch hoffnungsfrohe Coming of Age-Geschichte eines Jungen, der keine leichte Kindheit hatte und auf den das größte Abenteuer seines Lebens wartet. Auf seinem Weg in die Anderwelt verliert Charlie jedoch nie seine Bodenhaftung, nie seinen Kompass, was gut und richtig ist, obwohl er durchaus das eine oder andere Mal in seinem Leben bereits vom rechten Weg abgekommen ist und sich mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert sieht.

Fesselnder Pageturner vom Großmeister der Spannung

Das 880 Seiten starke Buch ist ein echter Pageturner. Einmal angefangen, kann man das Buch (trotz des Gewichts … ) nur schwer aus der Hand legen – man muss einfach wissen, wie es weitergeht und ob es Charlie gelingen wird, das magische Reich zu retten. Wie man ein spannendes Buch schreibt, muss man Stephen King natürlich nicht erzählen: Schließlich ist er nicht zu unrecht einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt, der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.

Auch auf seine alten Tage – King wurde am 21. September 2022 75 Jahre alt – beherrscht er sein Handwerk wie kein Zweiter. Die Charaktere sind gelungen und vielschichtig, und selbst Charlie hat als Hauptfigur seine Ecken und Kanten. Geschickt verarbeitet King bekannte Märchenmotive und Handlungselemente, spinnt daraus aber sein ganz eigenes erzählerisches Garn, mit dem er seine Leserschaft zu fesseln und in den Bann zu ziehen weiß. Von Michael Endes Unendlicher Geschichte über die Horror-Erzählungen von H.P. Lovecraft, Der Zauberer von Oz oder Alice im Wunderland bis hin zu selbstreferenziellen Bezügen auf seine eigenen Werke – King zieht erzählerisch alle Register und wenn man alle Anspielungen verstehen will, sollte man einiges an (literarischem) Genre-Wissen mitbringen.

Aber selbstverständlich kann man das Buch auch ohne dieses Hintergrundwissen lesen und genießen. Genauso wenig muss man sich im Stephen-King-Kosmos auskennen, um sich von dieser wahrhaft fantastischen Geschichte verzaubern zu lassen. Selbst wer um Stephen Kings Romane bislang einen großen Bogen gemacht hat, weil er oder sie kein Horror-Fan ist, kann nicht nur ganz beruhigt zugreifen, sondern sollte dies unbedingt tun, um nicht einen der herzerwärmenden Fantasy-Schmöker dieses Jahres zu verpassen!

Die gebundene Ausgabe ist mit einem Lesebändchen und Schutzumschlag versehen, dessen Gestaltung bereits einige Hinweise auf Motive und Figuren der Geschichte gibt. Im Zweifelsfall kann man sich mit dem Buch, das das Format eines Ziegelsteins hat, sicher auch gegen angreifende Monster verteidigen.

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