Andere Welten

Bücherecke: Tade Thompson: Fern vom Licht des Himmels

© Golkonda-Verlag

Science-Fiction einmal anders: Birgit Schwenger hat Tade Thompsons Weltraumkrimi “Fern vom Licht des Himmels” mit Begeisterung für uns gelesen.

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Michelle Campion tritt breites mit Mitte 20 ihre erste Mission an: Als erste Offizierin begleitet sie 1.000 Kolonisten auf ihrem Flug mit dem Raumschiff Ragtime zum Planeten Bloodroot. Nach zwei kürzeren Ausflügen ist dies ihre erste große Reise in die unendlichen Weiten des Weltraums, für die sie den prestigeträchtigen Job bei der NASA ausgeschlagen hat. Im Auftrag des Unternehmens MaxGalactix, das die künstlichen Intelligenzen programmiert, die mit dem Schiff verbunden und gleichzeitig auch dessen Captain sind, ist sie die für einen Raumflug zertifizierte menschliche Person, die gesetzlich als Begleitung vorgeschrieben ist.

Obwohl sie eine Top-Ausbildung genossen hat, wird Michelle, genannt Shell, auf ihrer Mission nicht das Geringste zu tun haben. Ihre Funktion ist rein zeremoniell, denn die KI wird sich um alles kümmern. In der gesamten Geschichte der interstellaren Raumfahrt ist der erste Offizier noch nie gebraucht worden. Die KI fliegt das Schiff, und dabei ist noch nie etwas schiefgegangen, weil eine KI keine Fehler macht.

Mordermittlungen im Weltall

So geht dann auch alles seinen geregelten Gang: Nach einem kurzen Gespräch mit Ragtime, der KI, die das Schiff ist, wird Shell ebenso wie die Passagiere in eine zehn Jahre andauernde Traumphase versetzt. Doch als sie – am Zielort angekommen –, von den Medbots wieder in den Wachzustand gebracht wird, muss sie feststellen, dass das Schiff eine Fehlfunktion hat: Bei Eintritt in die Umlaufbahn von Bloodroot hat sich die KI abgeschaltet, nur noch ein Hilfsprogramm ist im Einsatz. Aber es kommt noch schlimmer: 31 Passagiere fehlen, ihre Kapseln sind einfach leer.

Während Shell versucht, die Lage unter Kontrolle zu bringen, geht ihr langsam das ganze Ausmaß der Katastrophe auf. Die fehlenden Passagiere sind brutal ermordet worden. Die junge Astronautin sendet einen Notruf an den Planeten unter ihr, der ein Ermittlerteam, bestehend aus dem menschlichen Detective Rasheed Fin und der KI Salvo, schickt. Beide sind ein eingespieltes Team, wenn auch ohne Weltraumerfahrung, und sollen herausfinden, was an Bord der Ragtime wirklich geschehen ist und – fast noch wichtiger – ob Gefahr für die menschliche Kolonie auf Bloodroot droht.

Damit machen sie sich bei Shell nicht gerade beliebt, deren oberste Priorität ihr Schiff und ihre Passagiere sind. Als einziges Besatzungsmitglied findet sie sich im Gegenzug ganz oben auf der Liste der Verdächtigen des ungleichen Ermittlerduos wieder.

KIs machen keine Fehler

Gleich zu Beginn des Buches wird man damit konfrontiert, dass KIs keine Fehler machen und daher noch nie etwas beim Einsatz einer Schiff-KIs fehlgeschlagen ist. Es versteht sich von selbst, dass diesmal das erste Mal sein wird. Die junge Astronautin Michelle Campion, Tochter eines legendären Raumfahrers, schlägst sich wacker, und es scheint, als würde es ihr gelingen, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen.

Doch immer wieder schlägt die KI – oder was auch immer die Kontrolle über das Schiff und die Bots übernehmen hat – ihr ein Schnippchen. »Verlier sie nicht, mach sie nicht kaputt« lautet Shells Ansage, aber das ist leichter gesagt als getan, wenn das ganze Schiff Jagd auf einen macht.

Vielschichtiger SF-Roman mit Tiefgang

Tade Thompson ist mit Ragtime ein faszinierender Science-Fiction-Roman gelungen, der zunächst einmal sehr gelungene, gut geschriebene Unterhaltung abliefert und ein wirklich spannendes, kluges Leseerlebnis bietet. Aber Ragtime ist nicht nur Science-Fiction, sondern gleichzeitig auch noch ein Krimi, der die Leser*innen mit einem Mord in einer geschlossenen Umgebung konfrontiert: Wie konnte der Mörder sich unbemerkt Zutritt zum Schiff verschaffen und wo hält er sich jetzt auf? Nicht nur fehlt jeglicher Hinweis auf einen Eindringling, es sind auch nur die Lebewesen an Bord, die dort sein sollten – oder etwa doch nicht?

Geschickt legt Thompson seine Spuren aus, springt zwischen unterschiedlichen Zeitebenen sowie den Erzählperspektiven der verschiedenen Charaktere hin und her, um so ein wahrhaft kosmisches Puzzle zu entfalten, das sowohl die Folgen des Kolonialismus als auch die Sklavenarbeit beim Baum der V2-Rakete implizit behandelt. Auf einer weiteren Ebene flicht der Autor afro-spirituelle Anschauungen und mystische Elemente ein. Mit der Raumstation Lagos, der letzten Station der Ragtime, bevor sie Bloodroot erreicht, ist zudem die größte Stadt Nigerias symbolisch vertreten, dem Land, in dem Thompson aufgewachsen ist. Der Name des Raumschiffs, Ragtime, ist eine weitere Anspielung auf afro-amerikanische Kultur, nämlich den so bezeichneten Vorläufer des Jazzs, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkam.

Weltenschöpfung im Weltall

Eindrucksvoll gelungen ist Thompson auch seine Weltenschöpfung. Kurz angerissen wird der Transit der Raumschiffe durchs All, die Traumzeit der Passagiere, deren Metabolismus während des Fluges abgesenkt wird, diverse technische Gerätschaften und natürlich die künstlichen Intelligenzen, die aus dem Leben der Menschen nicht mehr weg zu denken sind. Das alles ist völlig normal und bedarf keiner weiteren Erklärung. Es wird keine Zeitangabe genannt, aber es scheint sich um eine nicht allzu ferne Zukunft zu handeln.

Von der ersten Seite an ist man fest in dem vom Autor geschaffenen Kosmos integriert, begegnet bekannten Namen wie der NASA und dem Kennedy Space Center, weiß, warum die Siedler auf Bloodroot (auf Deutsch Blutwurz) ihr Leben nach der Natur ausrichten, die sie auf dem Planeten, der nach der gleichnamigen Pflanze benannt ist, vorgefunden haben: Sie wollen die Fehler vermeiden, die auf der Erde begangen worden sind und zur wohl mehr oder weniger vollständigen Zerstörung der Natur geführt haben. Die Ausbeutung der Natur, die moderne Rohstoffgewinnung und der Preis, den die Menschen dafür immer noch zahlen, klingen immer wieder zwischen den Zeilen an.

Vor allem im letzten Drittel des Buches zieht das Tempo des Buches noch einmal ordentlich an und Thompson wartet mit zahlreichen Twists und zum Teil auch sehr schrägen Ideen auf. Hier gibt es definitiv mehr zu entdecken als in der klassischen Space Opera. Vor allem der Einfluss der afrikanischen Kultur und sicher auch Thompsons medizinisches Wissen machen den Roman zu einer sehr interessanten und spannenden Leseerfahrung.

Laut Aussage des Autors basiert sein Roman auf der Geschichte Die Morde in der Rue Morgue von Edgar Allan Poe, die gemeinhin als die erste Detektivgeschichte in der Literatur gilt. Die schrecklichen Vorgänge, die sich dort in Paris abspielen, finden nun im Weltraum statt, und dieser, so der Autor, ist furchteinflößend und versucht die ganze Zeit, einen umzubringen. Im Buch wird sehr treffend zum Sprichwort »Der Weltraum ist die Klippe am Abgrund des Todes« ausformuliert. Bleibt die Frage, wer oder was eigentlich Fern vom Licht des Himmels ist: Der Mörder? Die Menschen, die auf den Weg zu den Sternen vom rechten Pfad abkommen? Die Ragtime? Das gilt es nun bitte schön selbst herauszufinden!

Klare Leseempfehlung also für Fern vom Licht des Himmels, auf 384 Seiten im November 2022 als Klappenbroschur im Golkonda-Verlag erschienen. Und wer mehr von dieser Art Science-Fiction will: Für sein Debüt, die SF-Trilogie Wormwood, in der Aliens in Nigeria eine riesige Biokuppel errichtet haben, wurde Thompson mehrfach preisgekrönt, u. a. mit dem Arthur C. Clarke Award.

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