Andere Welten

Bücherecke: Treacle Walker – Der Wanderheiler

© Klett-Cotta-Verlag

Birgit Schwenger präsentiert “Der Wanderheiler”, philosophisch angehauchte Fantasy vom englischen Altmeister.

© Klett-Cotta-Verlag

Joseph Coppock, ein kleiner Junge, lebt allein in einem alten Haus an einer Eisenbahnstrecke im Nordwesten Englands. Wo seine Eltern sind, wird nicht wirklich geklärt. Aber Joseph, genannt Joe, scheint auch so gut alleine klar zu kommen. Zwar sieht er mit einem Auge nicht sehr gut und muss deshalb eine Augenklappe tragen, aber das hält ihn nicht davon ab, für sich selbst zu sorgen. Als Joe eines Tages den fahrenden Wanderheiler und Lumpensammler Treacle Walker vor seiner Haustür antrifft, lässt er sich auf einen Tauschhandel mit dem seltsamen Kauz ein: Für seinen alten Schlafanzug und den Schulterknochen eines Lamms darf er sich etwas aus Walkers Schatzkiste aussuchen, die mit mysteriösen Gegenständen angefüllt ist.

Joe entscheidet sich für ein kleines Töpfchen, in dem noch Reste einer seltsamen Paste sind, und einen Reibstein. Auf dem Töpfchen erscheint plötzlich sein Name, als sei es schon immer seins gewesen, und Treacle trägt ihm auf, mit dem Stein die Treppen zum Haus zu scheuern, damit niemand ins Haus gelangen kann. Joe ist sich nicht sicher, was es mit dem komischen Mann, der zugleich alt und jung erscheint, auf sich hat, folgt aber dessen Anweisungen. Als plötzlich seltsame Dinge um ihn herum passieren, greift der Junge auf Treacles Schätze zurück.

Auf Treacle Walker muss man sich einlassen. Die 154 Seiten umfassende Novelle, im Original 2021 erschienen, schrieb Garner im Alter von 87 Jahren, so dass sie durchaus als krönendes Alterswerk gesehen werden kann, als die »Summe seines Schaffens«, wie Literaturkritiker und bekennender Fantasy-Fan Denis Scheck es zusammenfasst. Garner hat zeitlebens sowohl für Kinder als auch Erwachsene geschrieben hat – zu seinen bekanntesten Werken zählen Feuerfrost: Der Zauberstein von Brisingamen, Der Mond von Gomrath und Rotverschiebung.

Auch in Treacle Walker spielt ein Junge die Hauptrolle, obwohl man sich nicht wirklich sicher sein, ob er wirklich ein echter Junge ist und welche Rolle er bei all dem spielt. In gewisser Weise vereint die Geschichte das Beste aus beiden Welten in Garners Büchern: Ein Junge erlebt Abenteuer in einer magischen Welt, die parallel zu seiner eigenen zu existieren scheint, ähnlich wie bei Alice im Wunderland. Magische Gegenstände, die aus einer lang vergessenen Zeit zu stammen scheinen, spielen eine wichtige Rolle, ebenso wie die mit Bedeutung aufgeladene Landschaft von Garners Heimat im Nordwesten Englands.

Augenscheinlich steckt aber viel mehr dahinter als einfach nur ein phantastisches Abenteuer. Garner spielt mit Mythen und alten Sagen, archetypischen Figuren, die die Jahreszeiten symbolisieren und altem Volksglauben entsprungen sind. Inmitten all dieser kleinen Wunder und magischen Begegnungen versucht sich Joe – und damit auch die Leserinnen und Leser – einen Reim auf die Welt um sich herum zu machen. Was hat das alles zu bedeuten? Und welche Rolle spielt das Vergehen der Zeit dabei?

»Die Zeit ist die Unwissenheit« – dieses Zitat des italienischen Schriftsteller Carlo Rovelli hat Garner seinem Buch als Motto vorangestellt. Wie erleben wir die Zeit? Wie können wir sie womöglich umgestalten, uns in Beziehung zu ihr setzen oder ihr gar entkommen? Das scheint Joes ganz besondere, eigene magische Fähigkeit zu sein: die Zeit außer Kraft zu setzen, den ewigen Moment in der Gegenwart wahrzunehmen.

Es bleibt letztlich jedem selbst überlassen, eigene Schlüsse aus Alan Garners kleinem magischen Sprachjuwel zu ziehen: Ist Joe ein kleiner Junge, den der Wunderheiler Treacle Walker gesundmacht? Oder verleiht er ihm in Wahrheit erst die Fähigkeit, die Vielfalt der Welt wahrzunehmen und sie (wieder) wie mit den Augen eines Kindes zu entdecken? Meisterlich erzählt Garner auf nur wenigen Seiten eine scheinbar kurze Geschichte, in der doch sehr viel mehr steckt als in vielen voluminöseren Romanen. Hier ist jedes Wort genau bemessen, die Erzählung halt noch lange nach.

Treacle Walker war 2022 für den renommierten Booker Prize nominiert, die Übersetzung stammt von Bernhard Robben. Die deutsche Fassung ist in der Hobbit-Presse im Klett-Cotta-Verlag in einer kleinen, aber sehr feinen gebundenen Ausgabe erschienen.

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