Andere Welten

Bücherecke: V. W. Schwab: Gallant – Im Garten der Schatten

© Fischer TOR

Diesmal folgt Birgit Schwenger Bestsellerautorin V. E. Schwab in ihrem neuen Buch in den „Garten der Schatten“

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Olivia Prior hat den größten Teil ihres Lebens in der Merilance Schule für Waisen und gefallene Mädchen verbracht. Sie weiß nichts über ihre Familie und ihr Leben, bevor sie nach Merilance gekommen ist. Nur das Tagebuch ihrer Mutter, das Olivia als kleines Kind bei sich hatte, als sie auf den Stufen der Schule gefunden wurde, ist ihr als einziges Andenken an die Zeit davor geblieben, in der auch sie eine Familie gehabt haben muss. Von ihrer Mutter weiß sie noch nicht einmal den Vornamen, von ihrem Vater nur, dass er tot ist.

Lange glaubte Olivia, dass ihre Mutter auf den Seiten des Tagebuchs zu ihr spricht, doch über die Jahre hinweg beginnt sie die Rätsel des Tagebuches allmählich zu entschlüsseln. Sie fürchtet, dass ihre Mutter dem Wahnsinn anheimgefallen ist, denn das Geschreibsel ihrer Mutter ist mehr und mehr aus dem Zusammenhang gerissen und wird immer unverständlicher, ebenso wie die Illustrationen des Buches, die Olivia wie sinnlose Tintenkleckse erscheinen. Nur auf der letzten Seite des Buches wendet sich ihre Mutter klar und eindeutig an Olivia: Sie warnt sie, dass sie nur so lange in Sicherheit sei, wie sie Gallant fernbleibe.

Wesen aus dem Schattenreich

Leider weiß Olivia nicht, wer oder was Gallant ist und sie kann auch niemanden fragen: Sie ist stumm und niemand an der Schule spricht die Gebärdensprache, sie kommuniziert nur mit Hilfe einer alten Schiefertafel. So ist sie eine Ausgeschlossene, die von den anderen Mädchen gehänselt und gequält wird. Aber Olivia hat gelernt sich zu wehren. Sie hat keine Angst, auch nicht vor den Ghulen, den Wesen aus dem Totenreich, die nur sie sehen kann und die nur teilweise da sind, manchmal nicht mehr als ein paar Zähne oder ein einzelnes in der Luft hängendes Auge.

Die Ghule sind keine echten Gespenster, sie können Olivia nicht berühren und ihr nichts tun, sie sind quasi ein Echo der Gestorbenen. Alle anderen nehmen die schattenhaften Wesen, die verschwinden, sobald Olivia sie mit ihren Augen fest taxiert, nur als eine Art Schatten, mehr wie ein unheimliches Gefühl wahr. Als ein Brief ihres Onkels, von dessen Existenz Olivia bislang nichts wusste, in der Schule eintrifft, und sie zu ihm nach Hause einlädt, scheint es, als würden alle ihre Träume von einer eigenen Familie und einem richtigen Zuhause Wirklichkeit. Doch der Name des Stammsitzes ihrer Familie ist Gallant – der Ort, vor dem ihre Mutter sie so eindrücklich in ihrem Tagebuch warnt, ihn niemals zu betreten.

Olivia ergreift die Chance, die sich ihr bietet und reist nach Gallant, wohl wissend, dass der Preis, denn sie für ein Zuhause zahlen muss, hoch sein wird. Doch das Haus und seine Bewohner sind anders, als sie es sich ausgemalt hat: Olivia wird nicht erwartet, niemand hat sie eingeladen und ihr Cousin Matthew will sie am liebsten gleich wieder hinausjagen.

Alle haben ganz offensichtlich Geheimnisse vor ihr, auch das Haus selbst. Erst einmal darf sie bleiben, da es zu gefährlich sei, das Haus im Dunkeln zu verlassen. Doch Olivia hat keine Wahl: Wo soll sie sonst hin? Zurück zur Schule kann und will sie nicht mehr. So beschließt sie, Gallants Geheimnisse und Rätsel zu ergründen und sich den Gefahren, die das Haus birgt, zu stellen. Wird Olivia mehr über das Schicksal ihrer Eltern erfahren oder wird sie selbst dort schließlich ihr Schicksal finden?

Der geheime Garten als Gothic Horror

Was zunächst als Geschichte eines armen und immer hungrigen Mädchens beginnt, das von allen verlassen wurde und weder von den Lehrerinnen noch ihren Mitschülerinnen gemocht wird, erinnert entfernt an Jane Eyre. Doch hier blüht keine romantische Liebesgeschichte im Verborgenen, kein hoffnungsvoller Lichtschimmer durchdringt die Dunkelheit, und man weiß nicht, welche unheimlichen Gefahren in den Schatten lauern.

Auch auf Gallant begegnet Olivia den Ghulen, die stumm wie sie das Treiben der Lebenden beobachten. Aus der gruseligen Atmosphäre des Romans, den die Autorin laut eigener Aussage ursprünglich als Märchen angelegt hatte, wird schnell eine Dark Fantasy, die mehr und mehr Horror-Anklänge erhält. Ein großes Haus wie Gallant mit vielen Zimmern und Fluren ist der perfekte Ort für eine Geschichte über das Verloren gehen. Es zeigt Zerfallserscheinungen, ein mysteriöses graues Unkraut breitet sich im Garten aus – etwas Seltsames geht dort vor. Gallant spielt seine ganz eigene Rolle im Roman.

Das Besondere an dem Buch ist, dass es sich um eine Geschichte in der Geschichte handelt. Das Tagebuch ist tief in die Handlung sowie das Buch selbst eingewoben. Es ist fast eine Art eigener Charakter in der Geschichte, visuell sehr schön mit den Zeichnungen des Grafikers Manuel Šumberac umgesetzt. Die Zeichnungen sind nicht einfach nur Illustrationen, sondern Teil der Handlung. Auch das Cover-Design von David Curtis ist sehr gelungen und passt perfekt zur Geschichte: Der Reliefschriftzug und die Rosenranken sind wunderschön.

Victoria (V. E.) Schwab ist die weltweit erfolgreiche Autorin von Das unsichtbare Leben der Addie LaRue, der Bestsellerserien Vicious & Vengeful und Shades of Magic – Weltenwanderer. Im Oktober erscheint ebenfalls bei Fischer TOR Die feinen Fäden der Magie, ein Spin-off der Shades of Magic-Reihe.

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