Moritz Bang, genannt Momme, hat es wahrlich nicht leicht: Er leidet an einer extrem ausgeprägten Zwangsstörung, die es ihm völlig unmöglich macht, etwas zu tun, was in irgendeiner Weise mit der Zahl 13 zu tun hat. Weder kann er den Brief mit der Räumungsklage für seine Wohnung öffnen, da dieser den Poststempel vom 13. Juli trägt, noch kann er ein Vorstellungsgespräch wahrnehmen, dass am 13. September stattfinden soll.
Ob Haus-, Telefon- oder Anzeigennummern im Internet – sobald eine 13 im Spiel ist, erliegt Momme seiner panischen Angst vor der Zahl und versucht diese mit allerlei ritualisierten Handlungen zu bändigen – in der Regel vergeblich. Er ist seiner Zwangsneurose inzwischen so hoffnungslos ausgeliefert, dass er sogar glaubt, dass alle seine Gedanken, Worte oder Handlungen Einfluss darauf haben, was ihm als nächstes widerfahren, ja, welches Schicksal sogar der ganzen Menschheit drohen wird.
Mommes letzte Chance
Am Tag, als er seine Wohnung räumen muss und nur das allernötigste von seinem spärlichen Besitz mitnehmen kann, ergreift Momme seine allerletzte Chance und fährt von Berlin aufs Land nach Brandburg, um sich im Gasthaus Wrota bei der Schwanstein GmbH als Haushüter vorzustellen. Die Tätigkeit scheint wie für ihn gemacht zu sein: Er soll in der geschlossenen, sehr abgelegenen Gaststätte nach dem Rechten sehen und muss sich sonst um nichts kümmern.
Doch schon in der ersten Nacht ereignen sich seltsame Dinge: Ein mysteriöses Auto taucht auf und jagt Momme einen Heidenschreck ein. Aber es kommt noch schlimmer: In der zweiten Nacht erscheint eine Weiße Frau, die er zunächst für ein Gespenst, eine Ausgeburt seiner Neurosen hält. Doch sie ist real und öffnet Momme die Tür zu einer sagenhaften Welt: Dreizehneichen, dem verborgenen 13. Stadtteil von Berlin.
Wo die Zeit stillsteht
In Dreizehneichen gehen die Uhren buchstäblich anders, wie Momme bald feststellen muss. Der Ort scheint im 18. Jahrhundert stehen geblieben zu sein, es gibt keinen Strom, keine moderne Technik und auch keine Medikamente. Stattdessen gehen die Menschen althergebrachten Berufen nach, der Tagesablauf ist komplett auf die 13. Stunde ausgerichtet, zu der sich alle Bewohner Dreizehneichens zu erbaulichen Vorträgen und kulturellen Veranstaltungen versammeln, die die Rückkehr zur ewigen Wahrheit predigen.
Ehe es sich Momme versieht, gerät er in eine gefährliche Verschwörung, die nicht nur sein Leben, sondern die Existenz von ganz Dreizehneichen bedroht. Welche Rolle spielt Oberst Secundus Falke, Chef der Abteilung XIII der Policey, die für Übertritte aus der Zwölfwelt zuständig ist? Kann Momme Hinckeldey trauen, einst selbst durch ein magisches Portal aus dem modernen Berlin, der sogenannten Zwölfwelt, nach Dreizehneichen übergetreten, und nun Ratsmitglied und Führer der umstürzlerischen »Legion des Heiligen Uriel«? Und was hat es mit der Widerstandsorganisation »Die Schwestern« und der geheimnisvollen Elise auf sich?
Mischung aus Fantasy- und historischem Roman
Nach Yula und die Sterne von Björn Suter ist Dreizehnfurcht von Wieland Freund schon der zweite phantastische Roman eines deutschen Autors innerhalb eines Jahres, der sich Berlin als Handlungsort ausgesucht hat – auch wenn die Ereignisse und Charaktere nicht unterschiedlicher sein könnten. Freund legt eine Mischung aus Fantasy- und historischem Roman mit Anklängen an einen Psycho-Thriller vor.
Sich mit Momme zu identifizieren, ist am Anfang nicht so leicht: Seine Zwangsneurosen und seine Panik sind nachvollziehbar und sehr geschickt in die Handlung verwoben. Aber so richtig ins Herz schließen kann man den jungen Mann nur schwerlich. Momme bleibt allerdings auch nicht die einzige Hauptfigur, auch wenn es zunächst so aussieht: Je weiter das in vier Teile gegliederte Buch voranschreitet, desto mehr Figuren wie Clemens von Stein, Secundus Falke und Merle übernehmen abwechselnd die Erzählperspektive, was den Leser*innen die Möglichkeit gibt, die Ereignisse aus der Gedankenwelt des jeweiligen Charakters und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erleben. So entsteht letztlich auch Verständnis für zunächst unsympathisch erscheinende Figuren, die ihre ganz eigenen Probleme haben.
Dystopisches Gedankenspiel im historischen Berlin
Freund hat ein interessantes Gedankenspiel geschaffen: Was wäre, wenn sich ein Teil der Welt vollständig dem Fortschritt verweigert? Wenn die Klassengesellschaft nach wie vor in Reinform existieren und Frauen keinerlei Rechte hätten, ja noch nicht einmal Medikamente gegen längst heilbare Krankheiten zur Verfügung stünden? Sieht so die Chance auf eine bessere Welt aus, die die ewige Wahrheit gefunden hat?
Oder bliebe sie nach wie vor den immer selben Machtkämpfen ausgesetzt, in denen die Herrschenden ihre Stellung sichern, neue Gruppierungen an die Macht wollen und die Rechtlosen für ein Leben in Freiheit mit gleichen Chancen eintreten? Die Dystopie, die Freund mit Dreizehnfurcht entwirft, wird stellenweise sehr düster und bedrohlich: Das Leben des Einzelnen zählt nichts, allein der Fortbestand des seit Jahrhunderten immer gleichen wird propagiert.
Wenn das Buch am Anfang auch etwas verwirrend erscheint und man nicht mehr weiß als Momme, erschließen sich doch nach und nach die Zusammenhänge und Bezüge zu unserer modernen Parallelwelt. Die Geschichte entwickelt ihren ganz eigenen Sog und man will auf jeden Fall wissen, wie es ausgeht. Das Lesen lohnt sich auf jeden Fall auch für Interessierte, die mit Fantasy vielleicht ansonsten nicht so viel anfangen können.
Autor Wieland Freund hat sich bislang eher einen Namen mit erfolgreichen Kinderbüchern wie Törtel, die Schildkröte gemacht, die auch fürs ZDF verfilmt wurden. Mit Dreizehnfurcht liegt nun in der Hobbit Presse von Klett –Cotta sein erster Roman für Erwachsene vor. 448 Seiten stark ziert ein sehr schön gestalteter Schutzumschlag mit Reliefdrucke das gebundene Buch, den Vorsatz vorn und hinten jeweils zwei Karten der Berliner Stadtteile.