Andere Welten

Bücherecke: J. M. Miro: Ganz gewöhnliche Monster – Dunkle Talente 1

© Heyne

Birgit Schwenger empfiehlt “Ganz gewöhnliche Monster – Dunkle Talente 1”, den historischen Fantasy-Schmöker mit Stephen-King-Touch.

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England, 1874: Das 16-jährige Dienstmädchen Eliza Grey ist auf der Flucht, weil sie ihren Dienstherren erstochen hat, nachdem er sie vergewaltigt hat. In ihrer Verzweiflung rettet sie sich in einen Güterwaggon, wo sie ein verlassenes Baby vorfindet – die Mutter liegt tot daneben. Eliza nimmt sich des hilflosen Jungens an, der von innen heraus blau leuchtet, als würde unter seiner Haut eine Laterne brennen. Fast glaubt das Mädchen, sich das Leuchten nur eingebildet zu haben, aber wie sich bald zeigt, ist der Junge, den sie Marlowe nennt, etwas ganz Besonderes. Doch Eliza wird nach wie vor wegen Mordes gesucht, so dass sie Marlowe schließlich schweren Herzens in der Obhut von Reverend Walker und der ehemaligen Zirkusfrau und Ringerin Brynt zurücklassen muss.

Mississippi, 1882: Der 16-jährige Charlie Ovid muss sich, nachdem seine farbige Mutter gestorben ist in den Südstaaten Amerikas alleine durchschlagen, seinen weißen Vater hat er nie gekannt. Charlie besitzt die wundersame Gabe, dass alle seine Verletzungen innerhalb kürzester Zeit wieder verheilen, ohne Spuren zu hinterlassen. Als er des Mordes an einem weißen Mann beschuldigt wird, wird ihm dies jedoch beinahe zum Verhängnis: Der Sheriff und seine Leute misshandeln ihn immer und immer wieder – aus reinem Vergnügen. Aber plötzlich tauchen zwei Detektive auf – die taffe Alice Quicke, Amerikanerin von Geburt, und der Engländer Frank Coulton, die beide für das Cairndale-Institut in Schottland arbeiten, ein Heim für Kinder mit besonderen Fähigkeiten.

Im Auftrag des Institutsgründers, Dr. Berghast, spüren die beiden auf der ganzen Welt Kinder auf, die über magische Fähigkeiten verfügen, und bringen sie zu ihm nach Schottland. So auch Ovid und Marlowe, der jedoch beinahe in die Fänge von Jacob Marber gerät, eines ehemaligen Schülers des Cairndale-Instituts. Marber hat sich von Berghast losgesagt und verfolgt seine ganz eigenen dunklen Pläne, in denen die Kinder eine wesentliche Rolle spielen. Auch er war einst als Kind nach Cairndale gekommen und verfügt über die besondere Fähigkeit des Staublenkens.

Als Charlie und Marlowe in London eintreffen, werden sie von Mrs. Harrogate, der rechten Hand von Dr. Berghast, aufgenommen. Doch schnell wird den beiden Jungen klar, dass sie keineswegs in Sicherheit sind, sondern ihre gefährliche Reise ins Unbekannte, ins Reich des Magischen und Phantastischen geraten erst begonnen hat. Und was für eine Reise das ist! Sie werden von Untoten gejagt, lernen andere Kinder kennen, die wie sie und doch alle grundverschieden sind, und versuchen zu ergründen, warum immer wieder einige von ihnen verschwinden. Sie entdecken eine völlig neue, erschreckend fremde Welt und müssen schließlich erkennen, das nicht nur ihre Leben in Gefahr sind, sondern der ganzen Welt ein grauenvolles Schicksal droht.

Insel der besonderen Kinder für Erwachsene

Was am Anfang als eine Art Insel der besonderen Kinder im historischen Gewand daherkommt, wird schnell zu einer sehr viel dunkleren Geschichte, bei der die Horror-Elemente immer stärker in den Vordergrund treten und es stellenweise sehr blutig zugeht. Die Protagonisten mögen zwar zum Teil noch jung an Jahren sein, aber es handelt sich um alles andere als eine Geschichte für Kinder. Ein bisschen erinnert das Cairndale-Institut auch an Dr. Xaviers Institut für hochbegabte Schüler aka die X-Men, aber bei Ganz gewöhnliche Monster sind die Schattierungen viel mehr grau als schwarz und weiß: Wer ist hier der bzw. das Böse? Welchen Zweck verfolgt Dr. Berghast wirklich mit seinem Institut? Warum hat Jacob Marber seinen ehemaligen Lehrmeister verraten? Will er den Kindern wirklich Böses und will er sie vielmehr beschützen?

Charles Dickens trifft Stephen King

J. M. Miros Roman spielt im 19. Jahrhundert in England, Amerika und Japan und weist sowohl deutliche Anklänge an Charles Dickens Schilderungen des Viktorianischen Englands mit seinen Londoner Slums und den Armenvierteln als auch an Stephen Kings phantastische Welten auf. Aber das wirklich Besondere an diesem Buch ist die überbordende Phantasie des Autors, der eine komplett eigenständige magische Welt im Gewand eines historischen Fantasy-Horror-Romans geschaffen hat. Das knapp 800 Seiten starke Werk ist extrem spannend sowie sehr bildhaft geschrieben und wartet mit einer Vielzahl an Charakteren auf, die alle über eine überzeugende erzählerische Tiefe und über ihre eigene Stimme verfügen, so dass man immer wieder nur zu gern bereit ist, zwischen ihren verschiedenen Geschichten hin und her zu wechseln.

Zwar gibt es Anklänge an andere Werke des Phantastischen Genres, wie z. B. Game of Thrones (der dreiäugige Rabe, Brienne von Tarth) oder die Elder Scrolls (der untote Litch), aber im Wesentlichen spielt Ganz gewöhnliche Monster in einer ganz eigenen Welt, die es sich erst einmal zu erschließen gilt. Viele Fragen bleiben offen, aber es handelt sich auch um den ersten Band einer Trilogie, so dass anzunehmen ist, dass sich manches Rätsel in den Folgebänden klären wird – vor allem auch die Frage, wer oder was hier eigentlich die wahren Monster sind. Auf Englisch ist der zweite Band der Dunkle Talente-Trilogie bereits erschienen, ein Erscheinungstermin für die deutsche Ausgabe steht noch nicht fest. Der erste Band liegt jetzt als Taschenbuch im Heyne-Verlag vor.

Bei J. M. Miro handelt es sich im Übrigen um ein Pseudonym des kanadischen Autors und Dichters Stephen Price, der mit seinem Roman By Gaslight schon einmal in Viktorianische England eingetaucht ist.

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