Andere Welten

DARK: Der ultimative Mindfuck (und ganz nebenbei das Beste, was Deutschland je produziert hat)

© Netflix

Björn Sülter blickt auf eine Serie zurück, die Deutschland endgültig auf die Serienlandkarte gebracht hat: DARK.

© Netflix

Angesichts des nahenden Starts der Serie 1899 aus der Feder von Baran bo Odar und Jantje Friese blicken wir heute auf den ersten Streich des Duos zurück. Willkommen bei DARK!

Denkt man an deutsche TV-Unterhaltung, lösen insbesondere ältere Semester sich gedanklich nur schwer von Das Traumschiff, Der Alte und Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Dabei ist die so fern wirkende Zukunft konkurrenzfähiger Formate längst Gegenwart: Mit DARK hat ein kreatives Team ultimativ bewiesen, dass sogar die besten Serien made in Germany sein können.

Zugegeben: Die 80er-, 90er- und 2000er-Jahre sind inzwischen schon eine ganze Weile her und selbst Post-Vierzigern dürfte klargeworden sein, dass in Deutschland Fernsehen nicht mehr (nur) nach Schema F und im Geiste von Oma und Opa produziert wird.

Serien wie die Neuauflage von Das Boot, die deutsch-österreichische Koproduktion Der Pass (beide Sky) oder sogar das nur teilweise überzeugende You Are Wanted (Amazon) konnten in diesem Zusammenhang durchaus als kleiner Aufrüttler herhalten. Doch braucht es den Blick zu Netflix und auf die Serie DARK, die seit 2017 Zuschauerfang betreibt, um zu realisieren, dass die Zukunft längst zur Gegenwart geworden ist. Willkommen in Winden, wo Hollywood ganz nah ist.

Zwei Macher

Der 42-Jährige Baran bo Odar wurde als Sohn eines Chemikers in der Schweiz geboren, wuchs aber in Erlangen auf. Nach dem Abitur studierte er in München an der Hochschule für Fernsehen und Film, wo er seine spätere Frau Jantje Friese kennenlernte. Diese arbeitete nach ihrem Abschluss für Made in Munich und die Neue Sentimental Film, produzierte dann aber das Langfilmdebut Das letzte Schweigen ihres Partners Odar.

Gemeinsam schrieben beide das Drehbuch zu Wo Am I, das ebenfalls Odar verfilmte. Das Drehbuch wurde für den Deutschen Fernsehpreis nominiert und brachte dem Regisseur nicht nur seinen ersten Hollywood-Job für das Remake Sleepless Night, sondern auch die Aufmerksamkeit von Netflix. Diese wollten zunächst eine Serie zu Who Am I, erhielten schließlich aber den Pitch für DARK. Ein Glückstreffer für beide Seiten.

Vier Familien

Drombusch, Wiechert, Schumann, Brinkmann: Im deutschen Fernsehen ging es oft um Familien und ihre Sorgen und Nöte. Dass die Namen hier nun Nielsen, Kahnwald, Tiedemann und Doppler lauten, überrascht somit nicht. Die Macher pickten sich mit dem fiktiven Kaff Winden den Mikrokosmos einer deutschen Kleinstadt des Jahres 2019 heraus, in dem sprichwörtlich die Zeit stehen geblieben schien. Dort folgten sie den Schicksalen ihrer Protagonisten zwischen Freundschaft, Ehebruch, Alltagstreitigkeiten, Eifersucht, Sex und dunklen Geheimnissen.

Garniert wurde das Ganze schließlich mit verschwundenen Kindern, dem nahen Atomkraftwerk, dessen reine Präsenz eine drückende Atmosphäre erzeugte und der Höhle im Wald, deren Innenleben Geheimnisse zu bergen schien. Ausreichend Stoff?

Zeitebenen über Zeitebenen

Vermutlich ja. So wirkte es in der ersten Staffel zunächst auch drastisch, neben 2019 mit 1986 eine zweite Zeitebene ins Spiel zu bringen. Doch wurde schnell klar, dass es dabei nicht bleiben würde. Es kamen 1953, 1921, 2052 und schließlich noch 1888 hinzu. Diese 33-Jahres-Schritte erlaubten es den Machern, ihre Figuren und die zugehörigen Familien in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung zu zeigen. Dabei ging es erstaunlich wenig um die gesellschaftlichen Veränderungen. Diese tangierten die Umsetzung nur am Rande. Man blieb immer ganz nah dran an den Geschichten der Menschen.

Die wechselnden Beziehungen von Großeltern zu Eltern zu Kinder dominierten nun die Szenerie. Was macht uns aus? Was treibt uns an? Wie verändern wir uns? Was geben wir mit? Was wird aus unseren Nachkommen? Viel Stoff für gutes Erzählfernsehen. Doch war das noch längst nicht alles.

Temporale Logik, Schicksal, Bestimmung, Philosophie, Psychologie; es waren am Ende sogar die ganz großen Kanonen, die Odar und Friese abseits der familiären Aspekte auspacken wollten. Wer sich einmal das Schaubild zur dritten Staffel bei Wikipedia angeschaut hat, erhält einen Eindruck von der Komplexität der Erzählung. Doch ging es im Kern immer um die Frage, wer wir sind und was wir mit unserem Leben anfangen. Inwiefern sind wir in der Lage, unser Schicksal bewusst zu steuern? Sind wir mehr als die Summe unserer Teile? Sind Veränderungen möglich? Oder endet alles immer auf die gleiche, bestimmte Weise?

Unzählige Easter-Eggs

In diesem dicht verwobenen Storykonstrukt versteckten sich obendrauf auch immer wieder Momente, bei denen sich der geneigte Genrefan und Vielseher an andere Formate der Vergangenheit aus TV und Kino erinnert fühlte. Sei es die „Anomalie in drei Zeitebenen“ aus dem grandiosen Finale von Star Trek: The Next Generation, der Darth-Vader-Moment, als Adam den schwarzen Anzug anlegt („Jonas, ich bin dein .. äh, du!“), die unzähligen Verweise in Dialog und visueller Umsetzung auf Zurück in die Zukunft und andere Zeitreise-Formate sowie sogar putzige Anleihen bei Spielen wie dem LucasArts-Klassiker Day of the Tentacle; Odar und Friese sind offenbar überall zuhause und zitieren mit Wonne und Begeisterung ihre Greatest Hits. Dass es ihnen durchweg mit einem Augenzwinkern gelang, lässt die Anleihen frisch und sympathisch erscheinen, auch wenn die Summe an Hommages irgendwann kaum mehr zu bändigen schien.

DARK zelebriert eine Mischung aus guten, spannenden Ideen, alten, beliebten Versatzstücken, visueller Klasse, einem bombastischen Score mit treffender Songauswahl (z. B. My Body is a Cage von Peter Gabriel) und einem weiteren Aspekt, der dringend noch angesprochen werden muss.

Dutzende DarstellerInnen

Wer nämlich bisher noch angenommen hatte, dass sich die Qualität deutscher Schauspielerinnen und Schauspieler mit Exportschlagern wie Jürgen Prochnow oder aktuell angesagten Vielspielern wie Til Schweiger und Matthias Schweighöfer erschöpfen würde, erlebt mit DARK eine dicke Weltbildveränderung.

Sei es die Riege der Jungdarsteller um Louis Hoffmann (Jonas), Daan Lennard Liebrenz (Mikkel), Lisa Vicari (Martha) oder Moritz Jahn (Magnus), die Erwachsenen Oliver Masucci (Ulrich), Jördis Triebel (Katharina) oder Julika Jenkins (Claudia) oder auch die „ältere Generation“ um Christian Pätzold (Egon), Christian Steyer (H. G. Tannhaus) oder Lisa Kreuzer (Claudia); alle erbringen den Beweis, welch Fülle an herausragenden Mimen unsere Filmszene zu bieten hat. Selten war es schwieriger, ein Ensemble zusammenzustellen, nie gelang es besser als hier. Mehr-Generationen-Casting der Extraklasse in optischer und schauspielerischer Hinsicht: Großes Kompliment!

Auf deutschen Sofas

Auch ein Loriot wäre vermutlich begeistert gewesen, wie die Serie das Konsumverhalten im heimischen Wohnzimmer beeinflusst hat. So wären bestimmt herrliche Sketche entstanden, bei denen ein Partner alle paar Minuten verwirrt „Äh, Schatz“ nuschelt und nach dem Drücken der Pausetaste der Couchnachbar mit Hilfe eines Laserpointers die verwirrenden Familienverhältnisse quer über alle Zeitebenen anhand eines extra aufgehängten Schaubilds im Wohnzimmer erklärt.

DARK ist ohne Frage keine leichte Kost und eignet sich nicht einmal zeitweise für begleitende Tätigkeiten wie Bügeln oder Hund streicheln. Eher wären Notizblöcke sowie Stammbaumposter angemessene Dreingabe seitens Netflix gewesen. Fernsehen als Wissenschaft?

Das Ende

Fast. Und natürlich wurde die Serie mit fortschreitender Dauer auch in gewisser Weise selbstverliebt in ihrer überbordenden Komplexität und Düsternis. Wenn zum zehnten Mal pro Episode die Moll-Akkorde durch die Lautsprecher wabern und kaputte Figuren bedeutende Blicke austauschen, bewegen die Macher sich auch in der Grauzone zwischen hoher Kunst und Zurschaustellung der eigenen Genialität.

Wer kann schon von sich behaupten, eine Serie konzipiert zu haben, die zwar jeder schauen, aber kaum jemand verstehen kann? Doch wird das der Leistung des Duos Odar & Friese nicht gerecht. Im Gegensatz zu LOST, wo insbesondere in den letzten Staffeln zu viele lose Enden zurückgelassen wurden, gelang es den beiden Machern hier, ihre Geschichte wirklich zusammenzuhalten.

Dennoch gilt es zu bedenken, dass die Parallelen zwischen dem einstigen Mindfuck-Format LOST und dem aktuellen Geniestreich DARK größer sind als die Unterschiede. Religiosität, Zeitreisen, der Kampf Gut gegen Böse und Licht gegen Schatten, Parallelwelten, Schicksal, Entführungen, unterirdische Kräfte, Freundschaft und Familie, Prägung und Miteinander, das Zueinanderfinden und Entzweien; alles Themen, die beide Formate einen. Insbesondere in der Charakterarbeit fällt auf, wie stark hier LOST als Vorbild diente, gelang es dort doch wie in kaum einer anderen Serie, Figuren über Rückblenden zu skizzieren und puzzleartig vor den Augen der Zuschauer zusammenzusetzen.

So mag man in der Reduktion auf drei kurze Staffeln vielleicht die größte Lehre aus dem Abrams-Format sehen. Odar und Friese wussten, was sie erzählen wollten und erhielten von Netflix die Freiheit, dies auf ihre Weise zu tun. Stringent und ohne Schlenker, was angesichts der Handlungsführung fast schon irrwitzig klingt, steuerten sie in ihren 26 Episoden auf ein Ende zu, das vorgezeichnet schien und nie aus dem Fokus geriet.

Ob man für die finale Auflösung dann am Ende so viel Zeit benötigt hätte, darf man durchaus als legitime Frage bezeichnen. Die Grundidee des Duos war aber ohne Frage spannend, wichtig und zeitlos. Kürzer wäre das Ganze bestimmt möglich gewesen. Doch ist, wie übrigens auch schon bei LOST, eher der Weg das Ziel gewesen.

Wenn das Ende der Anfang und der Anfang das Ende ist, bleibt das was dazwischen passiert als Essenzielles übrig. Wir sollten also vielleicht nicht so viel darüber nachdenken, was war und wird, sondern mehr darauf schauen was ist. Bei Serien und im Leben. DARK ist in jedem Fall die Reise wert.

Tipp: Die neue Serie der DARK-Macher, 1899, startet am 17. November auf Netflix.

Wir erwarten nicht weniger als die nächste Seriensensation aus deutschen Landen.

Hoch
WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner